42 ~ Das Warten

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Eine Weile lang starrte ich Tim fassungslos an. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschrien, wie er es wagen konnte, mich hier so schamlos anzulügen.

Aber ich tat es nicht. Ich tat es deshalb nicht, weil die kleinen nagenden Zweifel in mir sich von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr durch meine Eingeweide fraßen und dadurch immer größer wurden. So fühlte es sich jedenfalls in meinem Bauch gerade an. Und inzwischen ließ sich das entstandene Misstrauen nicht mehr leugnen oder verdrängen.

Statt ihn anzuschreien, wisperte ich nur schwach: »Wie kommst du darauf?«

Sein Blick wurde mitfühlend und er griff nach meiner Hand. Ich spürte, wie sich ein harter Knoten in meinem Magen bildete und wartete bis aufs Äußerste angespannt auf das, was er mir gleich eröffnen würde. Die Berührung seiner warmen Finger hatte etwas Tröstliches, also duldete ich sie einfach.

»Eigentlich war es Zufall. Ich bin in der Schülervertretung, und für die Weihnachtsaktion letztes Jahr habe ich mir im Sekretariat eine Liste mit den Namen unserer Stufe geholt. Dabei haben wir bemerkt, dass ein Schüler fehlt, dann genauer hingeschaut und festgestellt, dass es David ist. Ich habe nachgefragt und wollte eigentlich nur darauf hinweisen, dass irgendetwas mit der Liste nicht ganz passt. Die Sekretärin ist dann im Büro des Rektors verschwunden und als sie wiederkam, hat sie mir die Liste aus den Fingern gerissen und irgendwas von Datenschutz gebrabbelt. Dann hat sie mich ohne die Liste wieder weggeschickt.«

Ich zog verwundert die Augenbrauen hoch und wand energisch meine Hand aus seiner. »Das ist alles? Das könnte ...« Tims Kopfschütteln ließ mich sofort verstummen.

»Eine der Sekretärinnen hier ist eine gute Freundin meiner Mutter.« Er presste kurz die Lippen zusammen und wandte den Blick ab, bevor er zögernd weitersprach. »Als David sich plötzlich für dich interessiert hat, habe ich sie gebeten, ihre Freundin ... mal ... nach ihm ... zu fragen.«

»Tim!«, entfuhr es mir erstaunt und ziemlich verärgert.

Sein Blick kehrte zu mir zurück. »Mensch, Lil, ich hab mir wirklich nur Sorgen um dich gemacht. Zu Recht, wie es aussieht. Die Sekretärin hat herausgefunden, dass es absolut nichts über David gibt, keine Akte, keine Dateien, keine Dokumente. Alles, was ihn betrifft, ist wohl ausschließlich Sache des Direktors. Außerdem ist er auch nicht beim Einwohnermeldeamt registriert. Es ist nicht nur eine Auskunftssperre, er existiert einfach nicht.«

»Was? Da hast du dich auch nach ihm erkundigt?« Fassungslos runzelte ich die Stirn und schüttelte den Kopf. Was erlaubte er sich eigentlich, hier derartig den Sherlock zu spielen?

Er verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Meine Tante arbeitet bei der Stadt.«

Als ob das die ganze miese Aktion erklären würde.

»Das muss überhaupt nichts heißen«, konterte ich energisch und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich denken sollte. David schien es gar nicht zu geben und Tim mischte sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Ich wusste nicht mal, wie ich mich gerade fühlte. ›Verwirrt‹ war nicht annähernd ausreichend, um meinen Zustand zu beschreiben.

»Hast du mal nach ihm gegoogelt oder in sozialen Netzwerken oder im Telefonbuch nachgesehen? Ich nämlich schon, und ich habe ihn nirgends gefunden. Ein bisschen viel Zufall, findest du nicht?«, informierte mich Tim mit eindringlicher Stimme.

»Du hast dich ja ganz schön reingehängt, dafür dass du mir das alles gar nicht erzählen wolltest«, giftete ich ihn an.

Er zuckte nur mit den Schultern. »Es hat mich eben selbst auch interessiert. Kommt ja nicht alle Tage vor, dass man so etwas herausfindet, und je mysteriöser die Sache wurde, desto neugieriger wurde ich eben. Aber solange ich dachte, der Typ interessiert dich nicht, gab es für mich keinen Grund, dir davon zu erzählen. Jetzt sieht die Sache allerdings anders aus. Ich finde, du solltest es wissen. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst, Lil.« Seine Augen leuchteten in einem intensiven Hellblau und er sah mich unverwandt und irgendwie erwartungsvoll an.

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