6 ~ Schneewittchen

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»Wie kommst du eigentlich dazu, dir so ein Urteil über mich zu erlauben, Miss Perfect? Immer schön brav, ordentlich, freundlich, verantwortungsbewusst und angepasst. Klar, dass es so etwas wie hier in deiner heilen Märchenwelt nicht gibt.« 

Seine Stimme bei dieser Feststellung klang völlig unbeteiligt, ruhig und kühl.

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Heile Märchenwelt? Dieser Typ wusste doch gar nichts über mich! Mit trockenem Mund schluckte ich mühsam. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, mein Atem ging schneller und mein Herz pochte, denn langsam aber sicher kochte der Zorn in mir hoch. Um etwas Abstand zu gewinnen und meinen inneren Aufruhr zu beruhigen, schob ich meinen Stuhl ein Stück zurück. 

Ich würde ganz bestimmt nicht ausrasten. Das tat ich nie, und schon gar nicht wegen David Berger. Wenn er den emotionslosen Eisklotz heraushängen lassen konnte, dann würde ich das ja wohl auch noch schaffen. Ein paar Mal atmete ich tief ein und aus.

»Was soll das jetzt? Du kennst mich doch gar nicht«, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Es klang nur ein klein bisschen schnippisch.

»Und du kennst mich genauso wenig«, gab er gelassen zurück.

›Das stimmt allerdings‹, meldete sich die kleine Stimme zu Wort. Manchmal hasste ich es, dass sie immer recht hatte.

Ich seufzte leise. »Gut, das stimmt vielleicht. Tut mir leid. Aber du hast mich nach meiner Meinung gefragt.« Meine Entschuldigung klang etwas halbherzig, aber mehr hatte er auch nicht verdient.

Einen Moment lang starrte er nachdenklich vor sich hin.

»Okay, mir tut es auch leid. Und ich gebe es nur ungern zu, aber vielleicht hast du in einigen Dingen recht. Also schön, dann werde ich jetzt hier putzen. Hilfst du mir dabei?« 

Überrumpelt blinzelte ich ihn an, als würde mir eine leistungsstarke Taschenlampe mitten ins Gesicht leuchten. Hatte er mich gerade ernsthaft gefragt, ob ich mit ihm seine Messi-Wohnung putzen wollte? Jetzt sofort? 

In seinen Augen flackerte plötzlich etwas auf. War das ein Hoffnungsschimmer? Eine Sekunde später verdunkelten sie sich wieder.

»Okay, vergiss es. War eine blöde Idee.« 

Er stand auf, schob seine Hände in die Hosentaschen und starrte auf die Stadt hinunter. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen.

»Äh, nein. Hey, das war keine blöde Idee!« 

Mein Helfersyndrom schlug wieder gnadenlos zu. Für seine Verhältnisse hatte er mich nett um etwas gebeten. Na ja, nicht direkt gebeten, aber freundlich gefragt. Außerdem hatte die Wohnung wirklich eine Reinigung nötig. Vielleicht würde sich sogar an seiner ablehnenden Haltung etwas ändern, wenn er sich nicht mehr für sein Zuhause schämen müsste.

»Ich finde es super, dass du das machen willst. Ich helf dir, kein Ding.« 

Mit diesen Worten stand ich auf und stellte mich neben ihn an die Balkonbrüstung. Er drehte sich zu mir um und ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. Ein ziemlich süßes Lächeln, das beinahe mit dem von Tim konkurrieren konnte.

»Dann stimmt das also mit deiner Hilfsbereitschaft.«

»Moment mal, wie kommst du darauf?« 

»Ich spreche vielleicht nicht viel, Guapa. Aber das heißt nicht, dass ich nichts mitkriege.«

Für einen Moment ruhte sein durchdringender Blick auf mir, und mir wurde schlagartig heiß. Dann drückte er sich an mir vorbei zur Balkontür. Weil es sehr eng war, berührten sich unsere Körper dabei an vielen – an viel zu vielen – Stellen. Ich spürte seine Nähe überdeutlich und das ließ mich plötzlich an Dinge denken, an die ich noch nie in meinem Leben gedacht hatte, wenn ich jemanden gerade erst kennengelernt hatte. Meine Wangen glühten und ich grub nervös die Zähne in meine Unterlippe. Ein Hauch seines betörenden Duftes stieg mir in die Nase und verstärkte die seltsamen Empfindungen noch. Ein amüsierter Ausdruck schlich sich auf Davids Gesicht, als unsere Blicke sich streiften.

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