2 ~ Der tödliche Blick

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Am nächsten Morgen saß ich im Bus auf der Fahrt zur Schule und grübelte. Ich hatte schlecht geschlafen. Die halbe Nacht hatte ich mir das Hirn darüber zermartert, wie ich den Einsiedler David Berger dazu bringen könnte, mir dieses bescheuerte Interview zu geben. Eine Lösung war mir nicht eingefallen. 

Es brachte eigentlich nie etwas, wenn man die ganze Nacht hindurch Probleme wälzte, doch dieses Wissen hielt mich nicht davon ab, es trotzdem zu tun. Ich konnte es mir dummerweise nicht abgewöhnen. Wenn mir etwas schwer im Magen lag, konnte ich mich schon im Vorfeld von meinem Schönheitsschlaf verabschieden.

Und jetzt drehten sich meine Gedanken schon wieder im Kreis.

Wie sollte ich es nur anstellen? Wie sollte ich David dazu kriegen, mir persönliche Fragen zu beantworten, wo doch niemand aus der Schule auch nur die kleinste Kleinigkeit über ihn wusste? Außer, dass er ein großer, dunkler, gut gebauter Kerl war, der immer mit Lederjacke rumlief und sich in finsteren Ecken herumtrieb. Ein einziges Klischee, der Typ.

Er war in seiner Anfangszeit hin und wieder mit kleinen Blessuren im Gesicht, einem blauen Auge und einmal auch mit aufgeplatzter Lippe in die Schule gekommen. Seitdem ging das Gerücht um, er sei in Schlägereien und krumme Geschäfte verwickelt. Vielleicht handelte er mit Drogen oder so? Vielleicht war er gefährlich?

Oh Mann.

Der Typ legte es darauf an, mysteriös zu erscheinen. Er wollte bestimmt alles andere, als seine Lebensgeschichte in der Abschlusszeitung zu lesen.

Egal, ich würde es wenigstens versuchen. Wenn ich etwas versprach, dann hielt ich mein Wort. Immer.

Aber schon allein ihn um ein Interview zu bitten, schien mir eine unüberwindbare Hürde zu sein. Ganz zu schweigen davon, es dann auch tatsächlich durchzuführen.

Nein, darüber brauchte ich gar nicht erst nachzudenken. Es würde darauf hinauslaufen, dass ich mir meine Abfuhr einholte und damit wäre die Sache erledigt.

Ich brauchte nur eine günstige Gelegenheit, um ihn zu fragen. Am besten wäre es, wenn ich ihn irgendwo allein erwischen könnte, dann wäre es nicht ganz so peinlich, wenn er mich anschließend eiskalt abservieren würde.

Es war Freitagmorgen und ich überlegte, welche Kurse ich heute mit David zusammen hatte. Ich musste das Ganze so schnell wie möglich hinter mich bringen, sonst drohte mir das ganze Wochenende schlechter Schlaf. Darauf konnte ich wirklich verzichten.

Mir fiel ein, dass wir beide in der ersten Stunde Geschichte bei Herrn Radke hatten. David saß allein ganz hinten links. Er meldete sich nie, und plötzlich fiel mir auf, dass er seltsamerweise auch nie aufgerufen wurde. 

Herrn Radkes Unterricht verlief streng und diszipliniert und er scheute sich auch nicht, Schüler ohne Vorwarnung aufzurufen und abzukanzeln, wenn er den Eindruck hatte, dass sie nicht bei der Sache waren. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass David je aufgerufen worden wäre. Hatte selbst Radke Angst vor diesem Typen?

Ich atmete tief durch. Ein leichter Schauder rieselte über meinen Rücken.

Was war nur los mit mir? Ich war doch kein Angsthase. Eigentlich hielt ich mich für relativ selbstbewusst. Ich musste mich endlich zusammenreißen. Was sollte mir der Typ schon antun? Schlimmstenfalls würde er mich links liegen lassen.

Völlig von meinen wirren, kreisenden Gedanken in Anspruch genommen, bemerkte ich gar nicht, dass ich inzwischen im Klassenzimmer angekommen war. Der ganze Schulweg war heute an mir vorbeigerauscht, ohne dass ich es bewusst wahrgenommen hatte. Verwundert über diese Tatsache warf ich mich auf den Stuhl neben Pete und stellte meine Tasche auf dem Boden ab.

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