Die Ahnungslosigkeit im Augenblick des Erwachens ist ein paradiesischer Zustand. Dieser eine friedliche Moment, bevor man von der Wucht der Erkenntnis überrollt wird. Bevor all die schrecklichen Ereignisse wieder aus der Erinnerung auftauchen und gnadenlos über einen hereinbrechen. Die Dinge, die den Verstand dazu gebracht haben, sich für eine Weile abzuschalten.
Ich bemühte mich, diesen ahnungslosen Moment festzuhalten, aber es gelang mir natürlich nicht. Ich weigerte mich, die Augen zu öffnen, aber die Bilder ließen sich nicht aufhalten. Sie kehrten mit Macht zurück, liefen wie ein Film vor meinem inneren Auge ab, und mit ihnen kam auch der Schmerz wieder. Er setzte das zerstörerische Werk fort, das er bereits begonnen hatte, zerrte, riss und schnitt in meinem Inneren, um mein Herz in kleine Stücke zu zerfetzen und nichts davon übrig zu lassen.
Tränen bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht, aber sie konnten nicht einmal ansatzweise die Trauer ausdrücken, die ich fühlte.
David war fort und ich hatte ihn für immer verloren.
Ich brauchte meine ganze Willenskraft, um meine schweren, müden Augenlider zu heben. Ich war in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Wo war ich überhaupt?
Durch das Fenster drang nur schummriges Licht in den Raum. Ich fuhr mir mit dem Arm übers Gesicht, um den Tränenschleier wegzuwischen, der mich meine Umgebung nur verschwommen wahrnehmen ließ. Es musste Abend sein, oder vielleicht schon wieder Morgen? Wer wusste das schon? Es spielte auch keine Rolle.
Ich lag in meinem Himmelbett in meinem rosa Prinzessinnenzimmer, das mir plötzlich völlig falsch vorkam. Es passte überhaupt nicht mehr zu mir.
Wieder kam eine Erinnerung zurück. Das letzte Mal war ich in diesem Bett neben David aufgewacht. Gestern Morgen hatte er hier neben mir gelegen, sein Gesicht im Schlaf entspannt und friedlich. Die Bettwäsche duftete sogar noch nach ihm und seinem Rasierwasser. Oder war ich es? Hing sein Duft noch an meinen Kleidern? Vielleicht sogar an meinem Körper?
Dieser Duft. Er traf direkt mein Innerstes und stachelte den Schmerz an, sich noch tiefer und fester in mich zu bohren. Ich schnappte nach Luft, denn dieses Gefühl raubte mir für einen Moment den Atem.
»Gut, dass du endlich wach bist.« Mein Vater musste mein Keuchen gehört haben. Er saß auf meinem Schreibtischstuhl in einer dunklen Ecke des Zimmers und stand nun auf. Wahrscheinlich hatte er geschlafen, denn er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, bevor er sich zu mir auf die Bettkante setzte und meine Nachttischlampe anknipste.
Er sah schrecklich aus. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, Bartstoppeln sprießten in seinem Gesicht, sein Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab. In seinem Blick erkannte ich tiefe Sorge, und ich wusste sofort, wer dafür verantwortlich war. Ich war einfach für einen Tag und eine Nacht verschwunden und hatte nur eine kurze Nachricht hinterlassen. Er hatte nicht einmal gewusst wo ich war und mit wem ich zusammen gewesen war. Mein schlechtes Gewissen meldete sich lautstark zu Wort und ließ sogar den Schmerz für ein paar Sekunden in den Hintergrund treten.
Oh Mann, was hatte meine Familie meinetwegen für Ängste ertragen müssen! Ich hatte das völlig verdrängt und mir keine Minute lang Gedanken darüber gemacht, weil für mich einzig und allein David wichtig gewesen war.
Ich erwartete, dass er mich völlig zu Recht mit Vorwürfen überschütten würde, aber mein Vater beugte sich nur zu mir herunter und nahm mich wortlos in seine Arme. Er gab mir Kraft und Halt, und das war es, was ich in diesem Moment am dringendsten brauchte. Ich begann hemmungslos zu schluchzen, während er mich einfach festhielt. Mein Körper zitterte und krampfte, aber die Arme meines Vaters umfassten mich und verhinderten, dass ich auseinanderfiel.
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Romance⩥ ROMANCE || WATTYS SHORTLIST 2022 ⩤ Die achtzehnjährige Lil ist alles andere als begeistert darüber, dass sie den mysteriösen David für die Abschlusszeitung interviewen soll. Schließlich hält sie den unnahbaren Einzelgänger, der mit niemandem rede...