Ich schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um mein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Er war bereits auf dem Weg zum Flughafen. Ergeben wartete ich auf den Nervenzusammenbruch, der jeden Moment über mich hereinbrechen würde.
»Was machst du hier draußen, Lil? Geht es dir gut?«
Ich riss die Augen auf, fuhr herum und fixierte die Gestalt, die im Schatten an der Wand der Halle lehnte, einen Fuß lässig dagegengestellt. In der Hand hielt er eine Zigarette, die aufglomm, als er einen Zug nahm. Ich seufzte leise, während Erleichterung mich durchströmte und eine zentnerschwere Last von meiner Brust genommen wurde.
Alles, was ich wollte, war, bei ihm zu sein. Nichts anderes war wichtig. Ich wollte seinen Duft riechen, seine Wärme spüren, ihn berühren. Ich wollte ihn umarmen und küssen.
Wie in Trance ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, bis mich sein kalter, gefühlloser Blick traf. In einiger Entfernung von ihm erstarrte ich.
Die Gedanken in meinem Kopf rasten mit meinem Herzen um die Wette. Wahrscheinlich würde er es gar nicht zulassen, dass ich ihm um den Hals fiel. Er glaubte ja noch immer, dass sein Vater dann seine Drohungen wahr machen würde.
Oh Gott, wie sollte ich ihm das bloß beibringen? Er wusste ja weder, dass wir seine Mutter und seine Schwester gefunden hatten und es ihnen gut ging, noch etwas von dem furchtbaren Betrug seines Großvaters.
All diese Lügen und Geheimnisse!
Wie sollte ich ihm erklären, dass ich darüber Bescheid wusste? Dass seine einzige Vertraute Hada ihm jahrelang alles verschwiegen hatte? Ich durfte sie doch nicht verraten. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich das anstellen sollte und brauchte einen Moment, um darüber nachzudenken.
»Im Moment ist mir ziemlich kalt«, antwortete ich ausweichend das Erste, was mir einfiel. Ich zitterte am ganzen Körper, also war das eine nachvollziehbare Antwort, auch wenn sie total bescheuert war und er seine Frage sicher nicht so gemeint hatte.
Ich hätte sowieso keine vernünftige Antwort geben können, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie es mir gerade ging. In mir herrschten Hoffnung, Angst, Freude, Unsicherheit, Sehnsucht und Liebe in einer seltsamen, chaotischen Mischung. Das beschrieb es vielleicht am besten.
Mit heftig pochendem Herzen bemerkte ich, wie David sich von der Wand löste und aus dem Schatten auf mich zukam. Er klemmte sich seine Zigarette zwischen die Lippen und schlüpfte aus seinem Jackett. Ich bemerkte, dass er sich inzwischen von seiner Krawatte befreit und sein Hemd ein wenig aufgeknöpft hatte.
Als er sich vorbeugte, um mir das Jackett vorsichtig um die Schultern zu legen, hielt ich den Atem an und schloss die Augen. Dann zog ich tief die Luft ein und genoss seinen Duft, der mir aus dem Stoff in die Nase stieg und mich benebelte. Ich hatte geglaubt, diesen Duft nie wieder riechen zu können. Dass David mir plötzlich so nahe war, fühlte sich unwirklich und überwältigend an. Für einen Moment wurde mir schwindelig.
»Besser?«, fragte er, als er wieder einen Schritt zurückgetreten war und die Zigarette aus dem Mund genommen hatte. Blinzelnd öffnete ich die Lider und unsere Blicke verfingen sich ineinander, doch dem eisigen Ausdruck in seinen sturmgrauen Augen hatte ich nichts entgegenzusetzen, weshalb ich nicht lange standhalten konnte und schließlich mein Gesicht abwandte. Ich schluckte und nickte nur. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet und ich hatte das Gefühl, kein einziges Wort über die Lippen zu bringen.
»Du siehst wunderschön aus«, sagte er ohne jede Regung in seiner Stimme und entfernte sich einen weiteren Schritt von mir.
Schöne Worte, aber so gefühllos ausgesprochen, dass sie nichts bedeuteten. Und mir fiel auf, dass er sie nicht auf Spanisch gesagt hatte. Sonst hatte er mir solche Dinge immer auf Spanisch gesagt.
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Romance⩥ ROMANCE || WATTYS SHORTLIST 2022 ⩤ Die achtzehnjährige Lil ist alles andere als begeistert darüber, dass sie den mysteriösen David für die Abschlusszeitung interviewen soll. Schließlich hält sie den unnahbaren Einzelgänger, der mit niemandem rede...