Unschlüssig verharrte mein zitternder Finger eine gefühlte Ewigkeit über dem Sensor der Gegensprechanlage. Nervös ließ ich die Hand wieder sinken, um sie im nächsten Moment erneut zu heben und darüber schweben zu lassen. Meine andere Hand umklammerte den Griff der schwarzen Aktentasche so fest, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handfläche bohrten und meine Knöchel weiß hervortraten.
Warum um alles in der Welt stellte ich mich so an?
Ich hatte einen Entschluss gefasst, also würde ich es auch durchziehen. Komme, was wolle.
Es war nur leider so, dass ich eine unglaubliche Angst vor diesem Mann hatte. Immerhin war er in der Lage, die Existenzgrundlage meiner ganzen Familie zu zerstören, und das war mir nur allzu bewusst. So furchterregend bewusst, dass ich es bisher nicht geschafft hatte, meinen Finger auf diesen blöden Sensor zu legen.
Ich schloss die Augen und sah David vor mir. Vor genau zwei Wochen waren wir zusammen hier gewesen und ich hatte mir sein Gesicht genau eingeprägt. Das hatte so gut geklappt, dass ich inzwischen jedes Detail von ihm abrufen konnte. Gerade brauchte ich sein aufmunterndes Lächeln, das ich mir vorstellte und das mir wirklich half. Auch wenn ich mir sicher war, dass er alles andere als begeistert von meinem Vorhaben wäre, wenn er davon wüsste.
»Für dich, David«, wisperte ich, gab mir endlich den letzten Ruck und platzierte meinen Finger auf dem kleinen Bildschirm.
Die Kamera am Torpfosten surrte, drehte sich und nahm mich ins Visier, was mein ungutes Gefühl noch verstärkte. Ich fühlte mich beobachtet, ohne mein Gegenüber sehen zu können.
»Sie wünschen?«, ertönte eine Stimme so klar und deutlich, als stünde der Sprecher direkt neben mir. Ich rang nach Luft, um mein wild klopfendes Herz einigermaßen unter Kontrolle zu bringen und räusperte mich.
»Hallo, ich bin Liliana Sommer und möchte bitte Herrn von Rothenberger sprechen. Ich habe sehr wichtige Informationen und Unterlagen für ihn.«
»Verfügen Sie über einen Termin?«
Ich hatte schon befürchtet, dass es nicht einfach werden würde, mit Davids Vater zu sprechen. Hada hatte mir verraten, dass er am Samstagmorgen üblicherweise zu Hause zu frühstückte, bevor er meist gegen zehn Uhr das Anwesen verließ. Jetzt war es halb zehn, also sollte er noch dort drinnen sein.
Ich musste ihn unbedingt dazu bringen, mir zuzuhören. Scheitern war keine Option.
»Spreche ich mit Henry? Bitte, vielleicht erinnern Sie sich an mich? Ich war am Samstag vor zwei Wochen mit Da... ähm ... mit Victor von Rothenberger hier in dieser Villa.«
Stille. Sekundenlang hörte ich nichts außer dem Zwitschern der Vögel, so dass ich fast befürchtete, der Mann an der Sprechanlage hätte das Gespräch einfach beendet.
»Frau Sommer, es ist mir leider nicht möglich, Sie hereinzubitten. Aber Herr von Rothenberger wird in etwa einer halben Stunde das Haus verlassen, und ich empfehle Ihnen, sich so vor das Tor zu stellen, dass er nicht an Ihnen vorbeifahren kann. Ich wünsche Ihnen viel Glück, was immer Sie auch vorhaben.«
Der grüne Punkt auf dem Display erlosch, ohne dass ich noch etwas antworten konnte. Die nächsten dreißig Minuten tigerte ich unruhig vor dem breiten schmiedeeisernen Tor auf und ab.
In den letzten Wochen war ich im Minutentakt zwischen niederschmetternder Verzweiflung und ermutigender Hoffnung hin und her geschwankt. Zuerst überwog eindeutig der Schmerz und die Resignation, aber seit sich Hada vorgestern bei mir gemeldet und mir erzählt hatte, dass sie Davids Mutter und seine Schwester in Argentinien dank der alten Insta-Nachricht ausfindig gemacht hatte, war der Glaube daran, David doch noch aus dem Klammergriff seines Vaters befreien zu können, immer größer geworden. Ich wusste nun, dass es den beiden gut ging und Davids Großvater sie damals zum Glück nur gezwungen hatte, wegzuziehen und sich nie wieder bei Hada zu melden.
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Romance⩥ ROMANCE || WATTYS SHORTLIST 2022 ⩤ Die achtzehnjährige Lil ist alles andere als begeistert darüber, dass sie den mysteriösen David für die Abschlusszeitung interviewen soll. Schließlich hält sie den unnahbaren Einzelgänger, der mit niemandem rede...