Endlich war es Freitagabend. In höchstens einer Stunde würde ich ihn wiedersehen. Ich konnte der Sehnsucht kaum standhalten, die sich bei diesem Gedanken in mir aufbaute und mich wie eine gigantische Welle mit sich zu fortzureißen drohte.
Die Zeit war quälend langsam verstrichen und doch auch wieder rasend schnell. Ich war vor Sorge und Angst fast verrückt geworden, dann wieder ruhig und gelassen gewesen. Ich hatte riesige Zweifel gehabt und anschließend wieder blindes Vertrauen. Ich schwankte hin und her wie das Pendel eines Wahrsagers. Ich kam mir schon vor wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Seit David mich am Mittwochabend nach Hause gebracht hatte und dann ohne Abschied verschwunden war – so wie wir es vereinbart hatten, um die Trennung echt aussehen zu lassen –, hatte ich kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten.
Am Donnerstagabend hatte ich mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber meine Anrufe und Nachrichten blieben unbeantwortet. Und das, obwohl mir die Häkchen eindeutig anzeigten, dass die Nachrichten gelesen worden waren.
Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Es versetzte mir jedes Mal einen ziemlich heftigen Stich, wenn ich daran dachte, das musste ich mir eingestehen. Denn selbst mit sehr wenig Zeit hätte er sich kurz melden können. Das war doch wohl nicht zu viel verlangt? Es sei denn, etwas hinderte ihn daran. Da dieser Gedanke sofort Panik in mir aufsteigen ließ, zwang ich mich, ihn bloß nicht zu Ende zu denken.
David hatte mich darum gebeten, ihm zu vertrauen, und ich beschloss, es einfach zu tun. Es blieb mir ohnehin nichts anderes übrig. Ich verdrängte mit aller Macht jeden Zweifel und sämtliche Sorgen, die sich in den Vordergrund kämpfen wollten, und hoffte das Beste.
Zum Glück war ich ständig abgelenkt gewesen, da ich einen Termin nach dem anderen gehabt hatte. Am Donnerstagnachmittag saß ich in der Redaktionssitzung für die Abschlusszeitung. Den Abend verbrachte ich mit meinen Geschwistern, denn Feli und Papa waren zum Essen gegangen. Dabei hatte ich meinen Ruf als ewige Verliererin bei ›Mensch ärgere dich nicht‹ sehr erfolgreich verteidigt. Solange ich dafür mein Glück in der Liebe behielt, war mir das aber völlig egal.
Heute Nachmittag hatten Sara und ich endlich unsere gemeinsame Shoppingtour durchgezogen. Jetzt trug ich meine neueste Errungenschaft: ein schwarzes, ärmelloses Skaterkleid mit breiten Trägern. Knielang, oben eng und ab der Taille weit schwingend, so wie ich es am liebsten mochte. Ich gefiel mir richtig gut darin.
Sara und ich kletterten gerade aus dem Auto ihrer Mutter, die uns zum Jugendzentrum gefahren hatte. »Tschüss, ihr Süßen!«, flötete sie uns aus dem Fenster hinterher. »Und macht nichts, was ich nicht auch tun würde!« Mit diesen Worten trat sie aufs Gaspedal und verschwand mit quietschenden Reifen. Ich musste lächeln, weil sie Sara so unglaublich ähnlich war.
»Oh Gott, Mom ist manchmal so peinlich«, schimpfte diese kopfschüttelnd und verdrehte hingebungsvoll die Augen, was mich noch breiter lächeln ließ. Zum Glück wusste meine Freundin nicht, was ich gerade für einen Gedanken gehabt hatte.
Doch als wir uns umwandten und gemeinsam zum Eingang des Juze marschierten, erstarb das Lächeln auf meinen Lippen jedoch schlagartig und Nervosität breitete sich in meinem ganzen Körper aus. In mir tobte ein Sturm widersprüchlicher Gefühle, die abwechselnd die Oberhand gewannen: Freude, Sehnsucht, Angst, Zuversicht und Zweifel.
Dieser Abend würde für mich mehr als aufregend werden. Zum einen wollte ich mit Tim sprechen und ihm endlich erklären, dass ich mir mit ihm nichts anderes als Freundschaft vorstellen konnte, zum anderen hatte David mir versprochen, dass ich heute ›alles‹ erfahren würde.
Ich konnte nicht leugnen, dass ich mich davor fürchtete. Ich tappte noch immer völlig im Dunkeln, was hinter all seinen Geheimnissen steckte, aber es konnte kaum etwas Gutes sein. Ich hoffte einfach, dass er alles hatte so regeln können, wie er es geplant hatte, und dass wir danach einfach nur zusammen glücklich sein durften.
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Romance⩥ ROMANCE || WATTYS SHORTLIST 2022 ⩤ Die achtzehnjährige Lil ist alles andere als begeistert darüber, dass sie den mysteriösen David für die Abschlusszeitung interviewen soll. Schließlich hält sie den unnahbaren Einzelgänger, der mit niemandem rede...