4 ~ Date auf dem Pausenhof

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Natürlich war ich zehn Minuten zu spät gekommen, aber Herr Schuster hatte es nicht tragisch genommen. Schließlich war das noch nie passiert und ich war eine gute und zuverlässige Schülerin. Nicht gerade ein Attribut für Coolness, aber hin und wieder brachte einem das wenigstens gewisse Vorteile. Meine Entschuldigung wollte er gar nicht hören. »Ja, ja, Liliana, setz dich einfach«, war sein kurzer Kommentar zu meiner Verspätung gewesen.

Nun saß ich vor meinen Matheaufgaben, die ich mir noch nicht mal angesehen hatte, und kaute nachdenklich auf meinem Bleistift herum.

David würde mir also das Interview geben. Bei ihm zu Hause.

Eigentlich war geplant gewesen, die Gespräche in der Pause im Aufenthaltsraum oder einem Klassenzimmer zu führen. Es bei David zu machen, würde viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Zumindest für mich. Ich musste dafür zu seiner Wohnung fahren. Wusste der Geier, wo die sich befand.

Aber ehrlich gesagt war ich neugierig. Es wäre interessant zu sehen, wo und mit wem David wohnte. Niemand wusste etwas über ihn, und für das Interview wäre es nur von Vorteil, wenn es in seiner gewohnten Umgebung stattfinden würde. Ich konnte mir ein viel besseres Bild von ihm machen, und er wäre zu Hause vielleicht lockerer und gesprächiger, wenn das bei ihm überhaupt möglich war. Sicherlich würde mein Interview mit David das interessanteste von allen werden.

Für mich waren zwar Tims Antworten die spannendsten, aber die meisten Schüler wären sicher mehr als neugierig zu erfahren, wo Mister Mystery lebte, welche Hobbys er hatte, und wen oder was er mochte. Und obwohl er mir bisher völlig egal gewesen war und ich mich überhaupt nicht für ihn interessiert hatte, musste ich mir eingestehen, dass es mir inzwischen genauso ging.

Dass das Interview bei ihm zu Hause stattfand, war also okay für mich.

Die Fragen, die ich ihm ehrlich beantworten sollte, waren dagegen eine ganz andere Nummer. Warum wollte dieser Typ etwas von mir wissen? Was interessierte ihn auf einmal an mir? Bisher hatte er mich, wie alle anderen auch, keines Blickes gewürdigt. Lag es daran, dass ich mich so irre aufgeführt hatte? Hatte ich damit seine Neugier geweckt?

Um das herauszufinden, würde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen. Na gut, ich konnte damit leben, dass er mir Fragen stellte. Schließlich hatte ich nichts zu verbergen, jedenfalls nichts Gravierendes. Er dagegen ...

Die Mathestunde zog an mir vorbei, ohne dass ich davon etwas mitbekam. Wir wiederholten alle möglichen Aufgaben, um uns auf die mündliche Prüfung vorzubereiten und ein wenig Aufmerksamkeit hätte sicher nicht geschadet, aber die Rechnungen auf dem Arbeitsblatt blieben unlösbare Rätsel für mich.

Wenigstens hatte ich jetzt die Chance, dafür zu sorgen, dass David kein unlösbares Rätsel blieb. Und diese Chance würde ich nutzen.

Am Ende der Stunde hatte ich meine Entscheidung gefällt. Ich würde seine Bedingungen akzeptieren. Wenn ich ehrlich zu mir war, freute ich mich sogar schon auf das Gespräch und war gespannt auf seine Antworten.

Der Rest des Schultags zog sich quälend in die Länge und ich atmete erleichtert auf, als nach der letzten Stunde endlich das Signal ertönte, auf das ich schon die ganze Zeit hin gefiebert hatte. Wieder packte ich in Rekordzeit mein Zeug zusammen.

»Liliana, würdest du bitte noch die Tafel putzen? Ich weiß, dass du den Dienst nicht hast, aber Leonie ist krank.« Mit diesen Worten drückte mir meine Englischlehrerin den Lappen in die Hand. Sie wusste genau, dass sie bei irgendwelchen Sonderaufgaben immer auf mich zählen konnte.

Normalerweise machte mir so etwas auch nichts aus, aber musste es ausgerechnet heute sein?

Ich presste die Lippen zusammen und quetschte ein »Ja, klar« heraus. Kurze Zeit später konnte ich mir endlich meine Tasche schnappen.

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