64 ~ Der Abiball

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Mit Wünschen sollte man sehr vorsichtig sein.

Jedes Mal, wenn ich in den letzten Jahren eine Sternschnuppe gesehen hatte, war da immer nur ein einziger Wunsch gewesen: In einem wunderschönen Kleid wie eine Prinzessin mit Tim Ritter zum Abschlussball zu gehen. Niemals hätte ich ernsthaft damit gerechnet, dass das passieren würde, aber heute sollte dieser Traum tatsächlich in Erfüllung gehen. Nur leider fühlte es sich nicht so an. 

Wie viel klüger wäre es gewesen, mir zu wünschen, mit jemandem dorthin zu gehen, den ich liebe? Tja, im Nachhinein wusste man es immer besser. 

Ich stand in meinem Zimmer, den Blick nachdenklich auf den Spiegel gerichtet, und wünschte mir von ganzem Herzen und voller Sehnsucht, dass dort unten im Esszimmer jemand anderes auf mich warten würde. 

Leider war es noch hell und weit und breit keine Sternschnuppe in Sicht. 

Da Sara sich heute zu Hause fertig machte, um mit Pete und ihrer Familie zum Ball zu gehen, hatte ich mich selbst geschminkt. Was so viel hieß wie: dunkelroter Lippenstift, ein bisschen Wimperntusche und sonst nichts. Ich hatte einfach kein Talent dafür. Hätte ich mehr gemacht, hätte ich nur ausgesehen wie der von einer Vierjährigen bemalte Kopf einer Schminkpuppe. 

Immerhin hatte ich meine Haare mit dem Lockenstab bearbeitet und sie fielen mir in großen Wellen über die Schultern. Wenigstens meine Frisur war ganz gut gelungen, wie ich fand.

»Wow, du siehst aus wie eine Märchenprinzessin.« Lucys Augen waren groß und ihr bewundernder Blick zauberte ein beinahe ehrliches Lächeln auf meine Lippen.

»Danke. Du aber auch, Lu«, gab ich das Kompliment zurück. Sie sah wirklich sehr hübsch aus in ihrem dunkelblauen Kleid und mit den hochgesteckten braunen Haaren. Mit dieser Frisur wirkte sie fast schon wie ein Teenager. 

Ein bezauberndes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Danke, Li. Eigentlich bin ich nur gekommen, um dir zu sagen, dass wir jetzt losfahren. Tim wartet unten auf dich, also beeil dich. Er sieht übrigens ganz nett aus, aber er ist nicht David«, betonte sie, bevor sie sich umdrehte und die Zimmertür hinter sich zuzog.

Jede einzelne Faser in mir wusste das ganz genau, aber es nützte nichts. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen und mich irgendwie mit ihnen arrangieren.

Tim war eine dieser Tatsachen und ich sollte mich glücklich schätzen, heute mit ihm zum Abiball gehen zu dürfen. Auf Anhieb fielen mir mehrere Mädchen ein, die sofort mit mir tauschen würden. Nüchtern betrachtet hatte ich mehr als Glück, denn Tim sah viel besser aus als nur nett und das Wichtigste: Er war es auch.

In den letzten Tagen hatten wir uns wegen der Ballvorbereitungen sehr oft gesehen, da wir beide im Dekorationsteam der Halle waren. Interessanterweise hatte ich ausgerechnet mit Tim ein Zweiergespann gebildet. Ich hatte den leisen Verdacht, dass Sara hinter dieser Einteilung steckte, aber ich hatte nichts dazu gesagt, weil ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Auch wenn sie es damit wieder einmal übertrieben hatte. 

Bei der gemeinsamen Arbeit hatte sich herausgestellt, dass Tim und ich uns sehr gut verstanden. Er war aufmerksam und ab und zu wirklich witzig, und es hatte kleine Momente gegeben, in denen ich nicht ununterbrochen an David denken musste und sogar einen Hauch von Spaß empfunden hatte.

Deshalb hatte ich nach einer weiteren meiner in letzter Zeit unzähligen schlaflosen Nächte auch den Entschluss gefasst, endlich an mein Versprechen zu denken. Ich würde versuchen, heute Abend ein bisschen Spaß zu haben, vielleicht einen Hauch von Glück zu spüren und mich nicht mehr völlig gegen alles Neue zu verschließen. Die Sache mit Tim würde ich einfach auf mich zukommen lassen. Das war jedenfalls der Plan.

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