57 ~ Kein Morgen

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»Du denkst also auch, dass es hoffnungslos ist.«

»Nein. Es ist vielleicht aussichtslos, aber nichts ist hoffnungslos«, erwiderte ich entschieden.

Für einen Moment herrschte Stille, er schien über meine Worte nachzudenken.

»Ich verstehe nicht ganz, worin der Unterschied besteht.« 

Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Die Aussichten sind vielleicht ziemlich mies, aber Hoffnung gibt es immer.« Ich brachte ein ehrliches Lächeln zustande, mit dem ich ihn und gleichzeitig auch mich selbst zu überzeugen hoffte.

»Das ist dann wohl die Liliana-Sommer-Logik. Irgendwie mag ich die.« Sein Blick wurde weicher und seine Mundwinkel hoben sich, je länger er mich ansah. »Also gut, Lil. Wenn es kein Morgen mehr gibt, was würdest du dann jetzt gerne tun? Ich bin zu allem bereit.« Sein Blick hing einen Moment an meinen Lippen, bevor er nach oben wanderte. Erwartungsvoll sah er mir tief in die Augen.

Ich wusste ganz genau, was ich mit ihm tun wollte, aber ich war leider viel zu schüchtern, um es ihm zu sagen. Eigentlich sollte es keinen Platz für Schüchternheit geben, wenn es kein Morgen mehr gab, und doch brachte ich kein Wort über die Lippen.

Sein Atem streifte meinen Hals, seine großen Hände lagen besitzergreifend auf meinem Hintern und ich spürte seinen harten Körper überdeutlich direkt an meinem. All diese Tatsachen machten es mir unmöglich, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.

»Sag mir, was du tun willst, Schneewittchen«, wiederholte er leise und presste mich noch enger an sich. In seinen Augen begann der Sturm zu toben, der mir sowohl fremd als auch schon so vertraut war. Ich krallte meine Hände in sein Hemd und reckte mich ihm entgegen. Ich konnte ihm vielleicht nicht sagen, was ich tun wollte, aber es ihm zu zeigen, würde ich wohl noch hinbekommen.

Mein Herz schlug schneller, als ich sah, wie seine Augen dunkler wurden. Ich legte meine Lippen auf seine, und er erwiderte den Kuss wie ausgehungert. Es fühlte sich an, als würde ein Blitz in mich einschlagen, so viele Empfindungen schossen in diesem Augenblick durch meinen Körper. Meine Liebe zu ihm schien durch die Verzweiflung nur noch stärker geworden zu sein.

In dem Wissen, dass ich ihn bald nicht mehr bei mir haben würde, schlang ich meine Arme um seinen Hals und drückte mich mit Entschlossenheit noch näher an ihn. Ich spürte seine harten Muskeln durch den Stoff unserer Kleidung. Heiße Schauer jagten mir über den Rücken und das erwartungsvolle Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus wie eine Flutwelle, die alle trüben Gedanken mit sich riss.

»Lil ...« Seine Stimme war rau und leise. »Nicht hier. Nicht in diesem Haus. Lass uns zum Waldhäuschen fahren.«

»Einverstanden«, hauchte ich atemlos. Er hatte recht. Dieser Glaspalast war das Haus seines Vaters, womöglich hatte er Videokameras installiert, die uns filmen würden. Mittlerweile traute ich ihm alles zu.

»Dann lass uns hier verschwinden.« Er nahm meine Hand und wenige Minuten später saßen wir wieder zusammen in seinem schwarzen Porsche, den der Butler für uns vorgefahren hatte.

Eine steile Falte der Ratlosigkeit erschien zwischen seinen Brauen. »Ich habe wirklich keinen Schimmer, wo hier der nächste Kiosk ist«, murmelte er vor sich hin.

Mein erstaunter Blick flog zu David, der sich gerade umdrehte und nach seinem dunklen Jackett griff, das er achtlos auf den Rücksitz geworfen hatte. Er zog sein Handy aus der Innentasche und begann darauf herumzutippen.

»Kiosk?« Verständnislos riss ich die Augen auf. »Willst du dir noch eine Zeitung kaufen?«

Auf Davids Lippen schlich sich dieses unheimlich süße Lächeln, womit mir augenblicklich noch heißer wurde, als mir angesichts dessen, was wir vorhatten, ohnehin schon war.

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