62 ~ Leere Hülle

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Es war Samstagnachmittag. Vor genau drei Wochen hatte ich mit Davids Vater gesprochen und morgen würde es fünf Wochen her sein, dass ich mich vor unserem Gartentor für immer von David verabschiedet hatte. Fünf Wochen, in denen ich ihn nicht gesehen, nicht mit ihm gesprochen und nichts mehr von ihm gehört hatte.

Wobei das nicht ganz stimmte, denn da war dieser Artikel in der Klatschzeitschrift, die mir sein Vater aus dem Auto zugeworfen hatte. Die Ecken der Blätter waren auf der entsprechenden Seite umgeknickt, so dass ich gar nicht anders konnte, als die Bilder zu entdecken. 

Die perfekten Fotos für die Homestory, die über die gemeinsame Wohnung von Kat und David berichtete. Atemberaubende Bilder von zwei wunderschönen Menschen in einer modernen, geschmackvoll eingerichteten Luxuswohnung. Ein Traumpaar in seiner natürlichen Umgebung.

Da gab eines, auf dem die beiden nebeneinander auf dem hellen Ledersofa saßen, die Hände miteinander verschränkt und ein Lächeln auf Davids Gesicht, das vielleicht nicht strahlend war, aber dennoch echt wirkte. Dann eines in ihrer hochmodernen weißen Hochglanzküche, als sie zusammen etwas kochten. Kats Hand lag auf Davids Rücken, während sie neben ihm stand und neugierig in den Topf zu spicken schien. Wirklich sehr niedlich. Und schließlich eines im Schlafzimmer mit dem riesigen Boxspringbett, neben dem die beiden standen. Kat schmiegte sich eng an David, während sein Arm sie umschlang und seine Hand auf ihrer Hüfte ruhte. 

Leider war die große Schlagzeile ›Studentenwohnung mal anders! Zuhause bei Victor von Rothenberger und seiner Verlobten Katharina Becker‹ nicht zu überlesen gewesen.

Natürlich hatte ich mich gefragt, ob das wirklich alles stimmte. Solche Klatschblätter waren ja dafür bekannt, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen. Aber die Bilder sahen sehr echt aus und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Davids Vater es dulden würde, wenn eine Zeitschrift Lügengeschichten über seinen Sohn verbreitete. Außerdem hatte er ja schon angekündigt, dass er von David verlangen würde, eine feste Bindung mit Katharina einzugehen. 

Ich war mir aber ziemlich sicher, dass er David zu dieser Verlobung und der gemeinsamen Wohnung gezwungen hatte. Es konnte doch nicht sein, dass er mich nach fünf Wochen schon vergessen hatte?

Oder doch?

Erstaunlicherweise hatte es nicht wehgetan, die Bilder von Kat und David zu sehen. Denn seit dem Moment, als sein Vater so völlig gleichgültig auf die Wahrheit reagiert hatte, fühlte ich gar nichts mehr. 

Mir kam es vor, als wäre mein Brustkorb leer, als wären mein Herz und meine Seele bereits zu Staub zerfallen und nicht mehr existent, als wäre von mir nur noch eine leere Hülle übrig.

Ich befand mich in einem merkwürdigen Zustand.  Es war, als wären alle meine Gefühle im letzten Winkel weggeschlossen und lediglich der automatisch funktionierende Körper und der nüchtern arbeitende Verstand übrig geblieben. Ich war nichts als ein stiller Beobachter, der das Geschehen um sich herum völlig nüchtern und unbeteiligt zur Kenntnis nahm. Ein Geschehen, das mich in keiner Weise interessierte oder betraf. Ich aß, trank, schlief und lächelte, als wäre nichts geschehen, aber nichts davon war echt, alles fühlte sich vollkommen falsch an. Ich ging zur Schule und erledigte meine Pflichten, aber ich ließ alles um mich herum und mit mir geschehen, als wäre ich eine leblose Puppe.

War das der Zustand, in den David sich bewusst versetzen konnte, wenn er kalt und gleichgültig sein wollte? Auf einmal verstand ich nur zu gut, warum er das tat. Es schützte einen davor, zu zerbrechen. Es hielt einen aufrecht, während man andernfalls kaputt gehen würde. Trotzdem hatte in dieser Hülle immer noch der echte, lebendige David gesteckt, den man mit etwas Glück hervorlocken konnte.

Gab es die wahre Lil auch noch?

Ich wollte auf keinen Fall, dass sie zum Vorschein kam, weil ich den schrecklichen Schmerz, den ich dann empfinden würde, nicht ertragen konnte. Irgendwann würde ich mich ihm stellen und es durchstehen müssen, das war mir klar. Wahrscheinlich sollte ich damit auch nicht mehr allzu lange warten, bevor diese betäubende Kälte in mir zu einem chronischen Dauerzustand wurde. 

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