50 ~ Katharina

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»Aber David war so ein toller, liebenswerter Junge. Warum wolltest du bloß zu Victor werden?« 

»Warum?«, wiederholte er meine Frage, seinen verlorenen Blick auf die riesige Fensterfront gerichtet. »David war einfach für niemanden gut genug. Nicht für meine Mutter, die mich im Stich gelassen hat, und auch nicht für meinen Vater und meinen Großvater, die die Einzigen waren, für die ich noch irgendwie wichtig war. Ich glaube, ich wollte einfach, dass sie stolz auf mich sind und mich vielleicht sogar irgendwann ... mögen?« Das letzte Wort klang fast wie eine Frage und ließ mein Herz zu einem tonnenschweren Stein werden.

»Aber wie? Wie wolltest du zu Victor werden?« Meine Stimme klang merkwürdig dünn. Die ganze Geschichte war weitaus schrecklicher, als ich es mir vorgestellt hatte.

»Weißt du, als ich in dem Internat ankam, war ich nicht gerade der, den man zum ›beliebtesten Schüler‹ gewählt hätte. Es war eine internationale Schule und alle sprachen Englisch miteinander. Mein Englisch war wirklich miserabel. Die Kinder dort konnten es alle fließend, sie hatten seit dem Kindergarten Englischunterricht und das war auch die Unterrichtssprache. Ganz am Anfang habe ich ein paar Mal versucht, mich mit den Jungs in meiner Klasse zu unterhalten, aber die haben mich nur ausgelacht, weil mein spanischer Akzent so stark war. Außerdem kannten sich die anderen schon alle. Ich war der Neue, der komisch geredet hat.«

Sein Daumen zeichnete weiter die kleinen Kreise auf meine Hand, aber sein Blick war abwesend und glasig, als ob seine Gedanken in die Vergangenheit abdriften würden.

»Sie waren eine geschlossene Gemeinschaft und ich passte überhaupt nicht dazu. Ich war wie ein Fremdkörper. Ich konnte mich nicht mit ihnen unterhalten, hatte weder ihr Benehmen noch ihre Tischmanieren. Weil ich kein Instrument spielte, war ich nicht im Orchester, und mit ihren Sportarten konnte ich auch nichts anfangen. Von Anfang an war ich ein Außenseiter. Ich hatte keine große Lust, mich ständig zum Trottel zu machen, also habe ich mich irgendwann ganz von selbst von den anderen abgekapselt. Nach einer Weile hatte ich wohl auch diesen eisigen Blick ganz gut drauf, den mein Vater so perfekt beherrscht. Damit hab ich wahrscheinlich noch die Letzten vergrault.«

»Und das, wo du doch mit deinem Blick nie jemandem Angst machen wolltest. Wie hast du das alles nur ausgehalten? Dein Leben hat sich auf einen Schlag so krass verändert.«

»Na ja, zum Glück hatte ich ja noch Hada. Sie war für mich da und hat mir auch beim Lernen geholfen. Ich hatte keine Freunde und deshalb genug Zeit, den ganzen Stoff, den ich verpasst hatte, nachzuholen und Englisch zu lernen. Wahrscheinlich wäre das alles so geblieben, wenn nicht eines Tages ...«

*****

Zehn Jahre zuvor
Schweiz, Institut auf dem Hohenberg

Ich saß allein, so wie immer, auf einer Bank im Schulpark und wiederholte die englischen Vokabeln, die wir im Nachhilfeunterricht als Hausaufgabe bekommen hatten. Ich war viel lieber draußen als drinnen, denn im Haus fühlte ich mich oft eingesperrt.

Mein Lehrer hatte mich heute besonders gelobt und gesagt, wenn ich so weiter lernen würde, müsste ich bald nicht mehr zur Nachhilfe zu kommen. Das machte mich ziemlich stolz und vielleicht sogar ein bisschen glücklich. Ich nahm mir vor, mich noch mehr anzustrengen.

Vater und Großvater würden auch stolz auf mich sein, wenn ich hier hart arbeiten und zu den Besten gehören würde. So stolz, dass sie mich eines Tages lieben würden. Dafür gab ich alles. In vielen Fächern hatte ich inzwischen gut aufgeholt, in einigen hatte ich mein Ziel sogar schon erreicht.

»Hallo. Ich bin Katharina. Katharina Becker. Darf ich mich zu dir setzen?« 

Verblüfft blickte ich auf, denn seit Monaten hatte mich niemand mehr angesprochen. Anscheinend war ich so perplex, dass ich vergessen hatte, meinen Todesblick aufzusetzen.

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