63 ~ Der Brief

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»Li, die komische Frau ist wieder da. Sie will mit dir reden. Was will die eigentlich immer von dir?« Meine kleine Schwester stand in der Tür und verzog ihr Gesicht zu einer undefinierbaren Grimasse.

»Wen meinst du?«, fragte ich geistesabwesend. Ich saß mit meinem Handy am Schreibtisch und war in ein Sudoku-Spiel vertieft. Knifflige Smartphone-Spiele hatten sich als gute Möglichkeit erwiesen, mich aus meinem Gedankenkarussell herauszuholen, und im Moment spielte ich sie ununterbrochen. Möglicherweise befand ich mich auf der Schnellstraße zur Handysucht, aber das war mir egal. Ich war so in mein Spiel vertieft, dass die Worte meiner Schwester eine ganze Weile brauchten, um wirklich zu mir durchzudringen. Als ich erkannte, von wem sie wohl sprach, weiteten sich meine Augen vor Überraschung.

»Ist es Hada? Schnell, schick sie rein.« Ich sprang von meinem Drehstuhl auf, mein Herz begann heftig zu klopfen und ich knetete meine Hände, die plötzlich zitterten. Es war das erste Mal seit Wochen, dass die müde Gleichgültigkeit in mir einem echten Gefühl Platz machte. Auf einmal spürte ich eine unglaubliche Aufregung.

Was bedeutete dieser Besuch? Hatte Hada vielleicht doch noch irgendeine Idee? Ohne dass ich es verhindern konnte, flammte sofort wieder die Hoffnung in mir auf.

Lucy warf mir einen seltsamen Blick zu, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Offensichtlich wurde sie aus meinem Verhalten nicht mehr schlau, was ich ihr nicht verübeln konnte. Dann verschwand sie durch die Tür, nur um eine Minute später durch Hada ersetzt zu werden.

Ihre schlanke Figur umspielte ein langes, bunt geblümtes Kleid im Hippie-Stil, zu dem sie einen breiten Wildledergürtel kombiniert hatte. Ihre Haut war deutlich gebräunter als noch vor ein paar Wochen. Sie hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen und ihre Augen strahlten die gleiche Wärme aus wie bei ihrem letzten Besuch, aber es war kein fröhliches Lächeln. In ihrem Gesicht las ich dieselbe Resignation, die ich auch jedes Mal in meinem sah, wenn ich in den Spiegel schaute.

Es tat weh. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meiner Brust, denn mit dem Verschwinden der Gleichgültigkeit waren meine Gefühle ein Stück weit aus ihrem Gefängnis gekrochen, und wieder einmal war die Hoffnung schneller verflogen, als ich es verkraften konnte.

»Meine liebe Lil, ich freue mich, dich zu sehen. Auch wenn es mir leid tut, dass es dir so schlecht geht.«

Ich wich ihrem Blick aus, versuchte krampfhaft die Fassung zu bewahren, weil mir die Enttäuschung für einen Moment den Atem raubte, und brachte dann tatsächlich mein perfekt einstudiertes falsches Lächeln zustande. »Ich dachte eigentlich, dass meine Maskerade einigermaßen funktioniert«, gestand ich ihr schließlich, wobei meine Stimme furchtbar kläglich klang.

»Ich bin ziemlich gut darin, irgendwelche Masken zu durchschauen«, gab sie zurück und setzte sich auf die Bettkante, während ich mich kraftlos auf meinen Schreibtischstuhl zurücksinken ließ. Müdigkeit und Erschöpfung hatten sich mit einem Mal wieder in mir breit gemacht. »Ich bin hier, weil ich dir ein paar Dinge sagen und etwas geben möchte. Zuerst das hier.« Sie kramte in ihrer großen blauen Umhängetasche und zog einen unbeschrifteten Umschlag heraus. »Den hat mir David für dich gegeben, bevor er abgereist ist. Ich sollte ihn dir nach acht Wochen bringen.«

›Erst übermorgen sind es acht Wochen‹, schoss es mir durch den Kopf, denn ich zählte immer noch jeden einzelnen Tag ohne ihn. Es war Freitagnachmittag, erst am Sonntag wären acht Wochen seit unserem Abschied vergangen.

Ich schluckte trocken und griff mit zitternden Fingern nach dem Umschlag, legte ihn auf meinen Schoß und betrachtete ihn wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.

»Dann ist da noch das hier.« Ich hob den Kopf, als Hada nach meiner Hand griff und einen kühlen, harten Gegenstand hineinlegte, bevor sie meine Finger wieder darum schloss. »Das ist der Schlüssel zum Waldhäuschen. Ich möchte es dir schenken, Lil. Ich habe Davids Anwalt bevollmächtigt, die Formalitäten beim Notar zu erledigen. Er wird sich in ein paar Wochen mit dir in Verbindung setzen.«

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