Sonate No. 6

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Die nächsten Tage verliefen für Alec kaum anders als die vorherigen, bis darauf, dass er nun beinahe jede freie Minute mit Jace verbrachte.

Natürlich hatten sie sich von Clary und Isabelle eine ordentliche Schimpftirade anhören müssen, als sie wankend aus dem Hunter's Moon zurückkehrten. Irgendwie hatte es sich aber gelohnt.

Nach seinem Gespräch mit Jace über Familie und seine Mutter, fiel es Alec leichter, darüber nachzudenken. Er nutzte diese Gelegenheit, um Alilia ehrenvoll zu betrauern. Er wusste, dass Izzy das Thema immer noch totschwieg und hoffte, dass sie eines Tages ebenfalls bereit sein würde.

Bis dahin nahm Alec gerne die Unterstützung von Jace an. Er hätte anfangs nicht damit gerechnet, aber der blond gelockte Junge verstand ihn. Nicht nur durch seine ähnlichen Erfahrungen, es war mehr. Alec konnte es nicht beschreiben, aber wenn sie gemeinsam trainierten oder faul in der Bibliothek herumlungerten, dann fühlte er eine Verbundenheit, die er noch nie auf diese Weise gefühlt hatte. Je mehr ihm das bewusst wurde, desto leichter fiel es ihm, sich Jace zu öffnen. Wie jetzt.

"Aus dem Buch hat Mum uns früher vorgelesen", stellte er fest, als er einen schweren Gedichtband aus dem Bücherregal zog. Er hielt es in Jace' Richtung, der vom anderen Ende des Turmzimmers versuchte, den Titel zu entziffern.

"Wir haben einiges an elfischer Lektüre. Falls dir mal langweilig wird", witzelte Jace trocken und wandte sich ab.

Alec schnaubte belustigt. "Mir ist nicht langweilig. Aber dir scheinbar schon. Ich habe den Stapel Bücher auf deinem Nachttisch gesehen. Ist dir unser Training noch nicht Beschäftigung genug?"

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Jace mit den Schultern zuckte. "Es war schon mal schlimmer. Als ich klein war, hat mich mein Vater im Keller eingesperrt und mich erst wieder herausgelassen, wenn ich mit jedem Messerwurf das Bullauge traf."

"Wow." Erschüttert klappte Alec das Buch zu, das er durchstöbert hatte. "Das ist ja grausam. So was hat dein Vater gemacht?"

Wieder zuckte Jace mit den Schultern. Diesmal hatte er dabei Alecs volle Aufmerksamkeit.

"Nur so lerne ich es, hat er gesagt. Es hat ja irgendwie funktioniert, nicht wahr? Oder kannst du Beethovens Sonate No. 6 spielen?"

Jace klang unbekümmert wie immer, aber seine Haltung und wie er sprach wirkte dennoch verteidigend. So einem Vater wäre Alec sicher nicht mehr so treu ergeben. Wieso gab Jace nicht zu, dass die Erziehungsmethoden falsch waren?

"Ich kann ein Volkslied auf dem Klavier", lenkte er sich von seinen Gedanken ab. "Aber nur einstimmig."

Jace kam näher und klopfte ihm bedauernd auf den Rücken. "Du musst wahrlich ein Naturtalent sein", bemerkte er frech.

Alec lachte nur darüber. "Dann musst du mir von dir jetzt aber das Gegenteil beweisen!"

Als hätte Jace fest damit gerechnet, führt er Alec zu einem großen Flügel unter der Empore der Bibliothek. Geschmeidig ließ er sich auf den gepolsterten Hocker sinken und richtete seinen nicht existenten Frack. Alec lehnte sich derweil seitlich des Flügels an und wartete gebannt auf die ersten Töne.

Jace sah ihn ein letztes Mal an, dann legte er los. Eins, zwei, drei Tasten wurden gedrückt, mit dem Zeigefinger und unangenehm abgehakt. Ihre Blicke trafen sich und beide prusteten los.

"Ich hoffe, du hast mir nicht zu viel versprochen", neckte Alec den Blonden und knuffte ihm aus der Entfernung freundschaftlich in den Arm.

Jace antwortete nicht. Er sagte kein Wort und schmunzelte nur weiter vor sich hin. Dann legte er erneut seine Finger auf die Tasten des Instruments und begann zu spielen, diesmal richtig. Die Melodie schien wie von ganz allein aus dem Korpus zu erklingen, mit solch einer Leichtigkeit spielte er.

Alec war durchaus erstaunt. Jace hatte tatsächlich nicht zu viel versprochen. Minutenlang, es könnten auch Stunden sein, flogen Jace' Hände über die Tasten und erzeugten damit wundervolle Klänge. Als er dann langsam zum Ende kam, stand Alec immer noch der Mund offen.

"Das war wirklich beeindruckend", gab er zu. "Was war das?"

Jace zuckte mit den Achseln. "Ist mir gerade so eingefallen."

"Hat dein Vater dich da auch so lange nicht aufhören lassen, bis du perfekt spielen konntest?", rutschte Alec heraus und hoffte, dass die Frage kein Problem für Jace war.

Dieser lächelte und starrte abwesend auf die spiegelnde Politur des Klaviers. "Nein. Er hat mir auf die Finger geschlagen, jedes Mal, wenn ich mich verspielt habe."

Düster beobachtete Alec jede weitere Bewegung seines Gegenübers. Welche Geschichten gab es noch über Jace' diabolischen Vater? Er hatte geglaubt, das Feenreich wäre schlimm, aber das? Wie hatte Jace das überhaupt durchgehalten?

Schweigend trat Alec auf ihn zu und beugte sich von hinten über Jace' Schultern. Er hätte ihn gern in den Arm genommen, aber wusste, dass Jace ihn für jeden Mitleidsakt beuteln würde, deshalb hielt er sich lieber bedeckt. Mit seinem Gewicht an Jace' Rücken, immerhin, ließ er seine Finger über die kühle Klaviatur streichen und drückte ein paar Tasten.

"Beinahe dein Niveau", sagte er sarkastisch, nachdem er eine kurze Melodie zum Besten gegeben hatte.

Jace lachte. "Definitiv."

Tanz des Schicksals - Shadowhunters/MalecWo Geschichten leben. Entdecke jetzt