Kapitel 9: Serendipia

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»Du vergisst mich.« Die Stimme von Victors Mutter triefte vor Wehmut. »Ich habe dir nie etwas bedeutet, oder?« Sie ging rückwärts, in schleichenden Schritten und entfernte sich von ihrem Sohn. »Ich musste sterben, damit du ein schönes Leben in Kalifornien beginnen konntest.« Ihr Gesicht verzerrte sich zu einem grotesken Grinsen. »Oder bist du freiwillig gegangen, wie dein Vater?«
Victor rannte hinter ihr her. Er stammelte Erklärungen, aber sie waren in englischer Sprache und sie verstand ihn nicht. Er schrie Worte, dachte in Deutsch, aber alles verließ seine Lippen auf Englisch. »Ich will zurück!« Er schüttelte sich. »Bitte geh nicht!« Obwohl sie langsam ging und er rannte, konnte er sie nicht einholen. Eine dehnbare Barriere trieb Mutter und Sohn auseinander. Kameras hüllten ihn ein. Es blitzte überall. Überschriften umschlängelten seinen Körper. Sohn vergisst Mutter. Luxusleben verdrängt Trauerphase.

Victor flüchtete schreiend aus dem Traum. Er schnellte hoch und umklammerte das Bettlaken. Sein Herz trommelte. Das Shirt klebte am Schweiß seines Körpers, einige Tropfen rannen seine Schläfen hinunter. Frustriert riss er das Schlafanzugoberteil von sich und warf es zum Wäschekorb.

Er sah zu seinem Wecker. Zwei Uhr. Das war zu früh, um aufzustehen. Aber würde er nochmal einschlafen? Er schlug die Decke beiseite und ging ins Bad. Dort spritzte er Wasser in sein Gesicht und verharrte vor dem Waschbecken. Seine Hände umklammerten den Rand der Keramik. Die Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickten, waren halb geschlossen, geschwollene Tränensäcke bettelten darum, dass er nochmal schlief. Er schöpfte etwas Wasser in seine Handfläche und trank einen Schluck, bevor er sich wieder ins Bett legte. Eine Ahnung von Chlor blieb in seinem Mund zurück. In Amerika chlorten sie das Leitungswasser.

Die Nachtigall stand aufrecht im Käfig und beobachtete ihn. Er erwiderte ihren Blick. Ohne Brille sah er sie nur verschwommen, aber er nahm ihre Bewegungen wahr. Sie tippelte von links nach rechts und gurrte leise.

»Hab dich geweckt, hm?« Victor schloss die Augen und flehte darum, wenigstens die zweite Nachthälfte ohne Albtraum zu verbringen. »Tut mir leid. Es ist noch zu früh zum aufstehen.«

Eine wabernde Spirale legte sich um seine Wahrnehmung. Sein Körper wollte schlafen, aber sein Verstand wehrte sich dagegen. Was, wenn der nächste Traum noch schlimmer wäre? Was, wenn er nicht wieder aufwachte? Seine Nase kribbelte. So irrational seine Sorgen auch schienen, die Angst vor dem Schlaf umklammerte ihn wie eine Reifenkralle ein falsch geparktes Auto.

Die Nachtigall tschilpte leise, das ging in einen längeren Ton über. Sie reihte einen weiteren Laut hinzu und komponierte ein leises Lied aus verschiedenen Klängen. Die Melodie kannte Victor nicht, aber der wohlige Mitternachtsgesang beruhigte ihn. Er vertrieb die Panik von seiner Brust und ermöglichte ihm das Einschlafen.

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Also Victor aufwachte, war es taghell. Er angelte nach seiner Brille und sah auf die Uhr. Elf?! So lange hatte er seit Jahren nicht geschlafen. Die Nachtigall ruhte eingekugelt in der Käfigmitte.

Vic streckte sich und bedankte sich mit einem Lächeln bei dem Vogel. »Du hast gesungen.« Er lächelte noch breiter, als sich der kleine Kopf in seine Richtung drehte. »Das bedeutet, es geht dir besser, oder?«

Die Nachtigall legte den Kopf in den Nacken und gähnte. Irgendwie süß.

Victor stand auf und streifte die Hose von seinen Hüften. Als er das Schlafanzugoberteil aufsammelte und beides in den Wäschekorb legen wollte, stutzte er. Ganz oben lagen eine Jogginghose und ein schwarzes Shirt. Wann hatte er die denn getragen? Er zog die Hose heraus, um sie anzusehen. Seit er hier war, hat er sie nie aus dem Schrank geholt. Wie kommt die in den Korb?

Der Vogel stieß einen krächzenden Laut aus. Das tat er häufig, um etwas mitzuteilen. Meistens, wenn er Schmerzen hatte. Zumindest interpretierte Victor, dass der Laut diese Bedeutung hatte. Er ließ die Hose fallen, legte seinen Schlafanzug dazu und holte das Schmerzmittel aus der Schublade. Noch ehe er die Käfigtür öffnete, sperrte die Nachtigall den Schnabel auf. Vic ließ drei Tropfen hineinfallen und tupfte vorsichtig mit der Zeigefingerkuppe über Kopf des kleinen Wesens. »Ich hoffe, dass du bald keine mehr brauchst.« Er schloss die Käfigtür und ging ins Bad, um zu duschen.

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt