Kapitel 42: Risiko

58 6 5
                                    

Victor verbrachte die meiste Zeit der Tage abwechselnd in seinem Gästebadezimmer, in Jolies Küche oder Williams Raum. Seit er die Tabletten nahm, ging es ihm besser. Zumindest hatte sich der Schwindel gelegt. Die Bauchschmerzen waren zu einem chronischen Symptom geworden, aber sie hielten sich zurück und waren dadurch aushaltbar.

»Vielleicht musst du auch einen essen«, sagte Jolie und sah Victor mit verengten Augen an. »Wer weiß, vielleicht entwickelst du dadurch heilende Magie?« Ihre Stimme nahm Euphorie an. »Das ist vielleicht die Lösung! So wirst du Willian wecken.«

»Ich essen keinen Vogel«, entgegnete Victor genervt und stocherte in seinem Obstsalat herum. Erneut saßen sie in der Küche, so wie sie es drei Mal am Tag taten. Jolie war wirklich bemüht, ihm den Aufenthalt so menschlich wie möglich zu gestalten, aber langsam verlor sie die Geduld. Das Loch in der Badezimmertür hatte sie mit ein paar Brettern verdeckt, außerdem achtete sie darauf, das Haus nicht mehr zu verlassen. Damit Vic nicht noch einmal auf Fluchtgedanken kam.

Es war der letzte Tag. Vor Sonnenuntergang würde sie zwei Vögel töten.

Victor sank in sich zusammen. Seine Motivation krallte sich verzweifelt am Abfluss seiner Zurechnungsfähigkeit fest. War er wirklich schon seit vier Tagen hier? Und niemand kam her, um an diesem Ort nach ihm zu suchen? Sicherlich dachte jeder, dass er noch mit Gale unterwegs war. Aber warum hat Gale niemanden hergeschickt? Er müsste doch ahnen, dass Jolie ihn entführt hat. »Ich bin mir mittlerweile sicher, dass William keinen Vogel mehr-«

»Das haben wir oft genug besprochen.« Jolies Augenfarbe wurde eine Spur giftiger. Sie schüttelte den Kopf. »Ich lasse ihn nicht sterben, nur um deine wahnwitzige Idee auszuprobieren.«

»Und wenn du es darauf ankommen lässt?« Victor schob seinen Ärmel hoch und fuhr mit seinen Fingerkuppen über die verkrusteten Kratzer an seinem Oberarm. Mittlerweile spürte er auch in den übrigen Fingern wieder etwas. Das wäre unter anderen Umständen ein Grund zur Freude. »Zögere die Sache mit den Vögeln bis zu letzten Sekunde heraus. Dann sehen wir, ob Williams Zustand sich verändert.«

Jolie verschränkte die Arme. Für einen Moment kaute sie auf ihrer Unterlippe und ihr Blick flüchtete aus dem Fenster. »Ich müsste alles vorbereiten.« Sie rümpfte die Nase. »Aber das ist riskant.«

»Und dieses Risiko ist es dir nicht wert, um endlich einen Erfolg zu erleben?« Victor pikste ein Stück Ananas auf und zuckte mit den Schultern. »Dann scheinst du die Sache nicht wirklich ernst zu meinen.«

»Ich würde an deiner Stelle nicht so große Töne spucken.« Jolie schnaubte. »Aber weißt du was? Wenn es schon risikoreich wird, dann sollte für uns beide etwas wichtiges auf dem Spiel stehen, oder nicht?«

Victor kaute auf der Ananas und runzelte die Stirn. Er versuchte, in Jolies Blick einen Anhaltspunkt auszumachen. Wie meinte sie das? Er schluckte und der saure Saft der Ananas prickelte in seinem Hals. »Worauf willst du hinaus?«

Jolie lächelte. »Vor drei Tagen habe ich zwei Nachtigallen vor meinem Haus erwischt. Wenn William wirklich aufwacht, dann darfst du mit den beiden verschwinden.« Sie betrachtete ihre Fingernägel und das Lächeln wandelte sich zu einem giftigen Grinsen. »Aber wenn nicht, dann töte ich sie, um uns mit ihrer Magie zu versorgen.«

In Victors Kopf breitete sich ein Rauschen aus. Er starrte Jolies Lippen ungläubig an, so lange, bis sich seine Augen trocken anfühlten und er vor Schmerz blinzeln musste. Zwei Nachtigallen? Doch wohl nicht ... »Gale und Oscar?«

»Keine Ahnung, ob sie so heißen.« Jolie zuckte mit den Schultern. Sie lehnte sich zurück. »Ich glaube sie wollten nachsehen, ob du hier bist. Aber ich habe sie eingefangen.« Sie lachte leise. »Immer wieder unterschätzen diese Vögel meine Macht.«

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt