Victor betrat die Villa, in der Hoffnung, seinen Vater einzuholen. Hoffentlich würde er nicht das vorfinden, was er insgeheim befürchtete. Den Selbstmord, den er seit Monaten zu verhindern versuchte? Machs gut Victor. Diese letzte Floskel aus dem Brief umklammerte wie eine Bärenfalle seine Gedanken. War das als Verabschiedung gemeint? Für immer?
Um keine Zeit zu verlieren lief Vic schneller.
Die Flure waren prunkvoll wie eh und je. Aber an einigen Stellen verdeckten Staubschichten ihren einstigen Glanz. Sie legten einen Grauschleier auf den Stolz, so wie es die plötzlichen Alterserscheinungen bei Remus taten.
»Dad?« Victors Stimme hallte von den Wänden wider. Er knetete seine Hände und ließ den Blick durch die Gänge schweifen. Wo war er hingegangen?
Er durchsuchte das Erdgeschoss. Einige Räume waren stillgelegt. Die Möbel im Innern wirkten gespenstisch, weil sie mit halb durchsichtigen Laken verhüllt im Dunkeln standen. Candys Zimmer war unbewohnt. So auch die einstigen Wohnräume anderer Frauen, die Victor nur flüchtig kennen gelernt hatte. Und sein eigenes Zimmer? Die Möbel müssten noch da sein. Vic hat nur das nötigste zu Gale geholt, für den Fall, dass er aufgrund irgendeines Vorfalles doch zu seinem Vater zurückziehen musste.
Sollte er oben nachsehen? Aber es war überall dunkel. Warum sollte Remus durch seine düstere Villa streifen? Victors Herzschlag wurde unruhig. Er lief schneller und steuerte das Arbeitszimmer an. Vielleicht musste sein Vater dort etwas erledigen?
Vic öffnete die Tür und wollte eigentlich weiterziehen, denn auch hier war das Licht ausgeschaltet.
Aber...
Er stutzte.
Etwas regte sich im Halbdunkeln. Vic öffnete die Tür ein Stück weiter. Am Schreibtisch brannte das Licht eines Laptopbildschirmes. Im Schein des bläulichen Schimmers war ein Gesicht zu erkennen.
»Dad?« Victor schaltete das Licht ein.
Remus saß an seinem Schreibtisch und stierte konzentriert auf den Laptop. »Victor.« Er hob den Blick, seine Augen lösten sich nur zögerlich vom Bildschirm. »Warum bist du nicht draußen?«
Victor verharrte im Türrahmen. »Was machst du hier?«
»Arbeiten.« Remus' Lippen wurden dünn. »Geh wieder raus. Du verpasst deine Party.«
Arbeiten? Victor runzelte die Stirn. Er trat zögerlich näher und schob die Tür weiter auf. Vergewissernd sah er sich um. Es war keine Spur von irgendeiner Gefahr zu erahnen. Kein Seil hing von der Decke und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass sein Vater etwas Selbstzerstörerisches plante. Dennoch zwang ihn sein Gewissen, im Raum zu bleiben. »Woran arbeitest du?«
Ehe er sich auf diese Frage einließ, seufzte Remus langgezogen. Er klappte den Laptop zu und sah Victor an. Erst bei direktem Blickkontakt fielen die Rötungen seiner Augen auf. Hatte er geweint? »Ich muss noch etwas erledigen.« Ein knappes Lächeln huschte über seine Lippen, aber es zog sich schnell wieder in die Dunkelheit seiner Mimik zurück. »Der Schreibkram hat dich doch nie interessiert. Warum bist du mir nachgelaufen?«
Weil ich dachte, du bringst dich um. Sollte Victor einfach ehrlich sein? Er könnte ihm von der Vision erzählen. Eigentlich hätte er das längst tun können. Aber das hätte Fragen aufgeworfen und im schlimmsten Fall wäre die Magie rund um Gales Spezies zum Thema geworden. »Ich wollte mit dir über den Brief reden.« Seufzend zog er das Papier aus seinem Hosenbund. »Was hast du vor?« Er räusperte sich, damit seine Stimme gleichklingend blieb. »Wieso endet der so abrupt?«
Remus weitete die Augen. Er öffnete den Mund, sagte aber nichts.
»Wieso soll ich die Firma übernehmen?« Victor schüttelte sich. »Warum steht da nicht, dass wir gemeinsam daran arbeiten?« Er trat näher an den Tisch heran und legte den Brief auf den zugeklappten Laptop. »Dad, was geht dir durch den Kopf?«
DU LIEST GERADE
Mitternachtsgesang
FantasíaAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...