Kapitel 15: Die Züchterin

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»Nein.«

Victor erstarrte. Yorus Besitzerin stand vor der Villa? Sie wollte ihn mitnehmen?
Mit klopfendem Herzen stellte er sich zwischen Remus und den Käfig. Er brauchte Zeit, um sich zu verabschieden. Um zu verarbeiten, dass Yoru nicht ihm gehörte. Ausgerechnet jetzt sollte er ihn ziehen lassen? Er hat ihn lieb gewonnen. Selbst schuld, dachte er und verhöhnte sich für seine Emotionalität. Er hat gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Warum hat er dem Vogel überhaupt einen Namen gegeben?

»Es tut mir leid, aber sie sagt, es ist eine seltene Gattung, die sie dringend wieder braucht.« Remus verschränkte die Arme. »Ich kaufe dir einen anderen Vogel.«

Einen anderen Vogel? Jeder andere Vogel wäre nicht die niedlich dramatische Nachtigall, die ihn durch die schlimmste Phase seines Lebens begleitet hat. Victors Schultern sanken. Missmutig ging er auf den Käfig zu. Mit schwitzigen Händen hob er ihn vor die Brust.
Seine Beine fühlten sich taub an, während er mit bleiernen Schritten seinem Vater über den Flur folgte. Ein unsichtbares Gummi zog ihn nach hinten. Die goldenen Stäbe zwischen seinen Fingern schienen zu glühen.

Yoru wurde mit jedem Schritt unruhiger. Die schwarzen Knopfaugen bohrten sich in Victors Seele. Der kleine Vogel krächzte und flatterte mit den Flügeln. Versuchte er, etwas mitzuteilen? Oder war das Victors Wunschvorstellung? Es wäre schön, zu wissen, dass Yoru dieser Abschied auch schwerfiel. Aber so tickten Tiere nicht. Er würde zu seiner Besitzerin zurückkehren und seinen Ausflug in Victors Welt schon bald vergessen.

Vics Nase kribbelte. Er wäre wieder alleine. Bereits jetzt spürte er die einsame Leere, die sich in seinem Zimmer ausbreitete und wie ein schwarzes Loch all seine Freude aufsaugte. Würden die Albträume zurückkehren?

Als sie die Tür erreichten, krächzte Yoru laut. Er schlug wild mit den Flügeln und tippte immer wieder mit dem Schnabel gegen Victors Finger. Der Teenager ignorierte das so gut er konnte. Daraufhin widmete sich der Vogel der Käfigtür. Er pikste dagegen, flatterte und stieß immer wieder mit dem Kopf vor die Stäbe.

Remus öffnete die Haustür. »Hier ist er.« Er streckte die Arme aus, präsentierte sein blendendes Grinsen und gab die Sicht nach draußen frei.

Eine große Frau stand unten vor den Treppen. Sie trug ein bodenlanges figurbetontes Kleid, mit einem hohen Kragen, der mit verschiedenfarbigen Federn verziert war. Aus den verschränkten Armen blitzten künstliche Fingernägel hervor. Langes dunkelbraunes Haar fiel in Wellen über ihre zierlichen Schultern. Ihre Ausstrahlung war sonderbar. Sie sah jung aus, als wäre sie Ende zwanzig, aber ihre Aura wirkte alt. War sowas möglich? »Mein kleiner Japaner«, säuselte sie und trat mit lächelnden Augen näher.

Yoru kreischte nun. Er flatterte so wild, dass Victor fürchtete, er würde sich den Flügel wieder brechen. »Beruhige dich«, flüsterte er und ging auf die Frau zu. »Du darfst jetzt nach Hause.« Die Worte trockneten seinen Mund aus und füllten seine Magengrube mit Sehnsucht. Wie gerne würde er auch nach Hause zurückkehren, zu seiner Mutter. Aber diese Option war Victor für immer verwehrt. Er musste am Ende jeden Tages in den goldenen Käfig zurückkehren, in dem er nie hatte landen wollen.

Die dunkelhaarige Frau trat die Stufen hoch. Victor trat herunter. In der Mitte trafen sie sich und ihre Blicke verhakten sich ineinander. Trauriges Blau und gieriges Grün. Gänsehaut rauschte über Vics Rücken. Das Kreischen der Nachtigall zerfloss in seinen Ohren zu erbittertem Flehen. Er wollte nicht zurück. Warum auch immer. Yoru wollte nicht in die Hände dieser Frau geraten.

Das Rauschen in Victors Ohren breitete sich aus, übernahm seine Gedanken und ließ ihn unüberlegt handeln. Während er den Käfig in die fremden Arme übergab, glitt seine Hand an der Verriegelung der goldenen Tür vorbei. Er öffnete den Käfig und noch ehe Yoru den Ausgang anvisierte, verzog er entschuldigend das Gesicht. »Oh nein, wie ungeschickt.«

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt