Kapitel 26: Der neue Therapeut

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Gale und Victor nutzten die neugewonnene Privatsphäre im abgeschlossenen Zimmer immer häufiger, um sich näherzukommen. Sie lagen stundenlang im Bett, schauten fern oder unterhielten sich über ihre Träume. Manchmal tanzte Victor, um die wichtigsten Schritte nicht zu verlernen, und Gale sah ihm dabei zu.
Wenn jemand anklopfte, verwandelte er sich und verschwand in seinem Baum. Victor ließ sich dann Zeit, während er die Tür entriegelte.

Diese neue Normalität fühlte sich schön an. Zwischendurch übten sie Schwimmen oder Victor verbrachte Zeit mit seinem Vater, um dessen Arbeit kennen zu lernen.

So verging eine Woche.

Die Sitzung mit dem neuen Therapeuten fand nicht in Remus' Büro statt. Dr. Jonas Sutherland bestand darauf, die heilende Wirkung der Natur zu nutzen, und traf Victor im ruhigen Teil des botanischen Gartens. Sie saßen auf einer der versteckten Bänke nebeneinander. Die Bäume raschelten im sanften Wind und das Plätschern des Teiches war aus der Ferne zu hören.

»Was für ein schöner Garten«, schwärmte der Therapeut. Er zog den Kragen seines Sakkos zusammen und funkelte Victor aus trüben dunkelblauen Augen entgegen. Dr. Sutherland war älter als Ms Stevens. Sein Haar war bereits so sehr ergraut, dass man seine ursprüngliche Haarfarbe nicht mehr bestimmen konnte. »Du bist sicher gerne hier.«

Victor nickte. Er ist lange nicht mehr hier gewesen. Spontan fasste er den Plan, Gale noch einmal in den Garten zu entführen. Hier, wo sie im Augenblick saßen, wären sie versteckt genug, um von niemandem beobachtet zu werden. Sein Bauch kribbelte bei der bloßen Vorstellung an diesen Ausflug. »Haben Sie mit Ms Stevens gesprochen?« Er räusperte sich. »Also, wissen Sie, was mit mir los ist?«

Dr. Sutherlands Augenwinkel sanken. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur von deinem Vater, dass du unter dem Verlust deiner Mutter leidest.« Er verflocht seine Finger miteinander und lehnte sich vor. »Hattet ihr ein inniges Verhältnis?«

»Meine Mutter und ich?« Vics Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ja, schon. Wir waren wie ... na ja ... Mutter und Sohn.«

Der Therapeut nickte. Sein Gesicht gab keine Rückschlüsse auf seine Gedanken. »Hat sie dich denn wie einen Jungen großgezogen?«

Mit verschränkten Armen lehnte sich Victor zurück. Was war denn das für eine Frage? »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Dir hat ein männlicher Einfluss in deiner Kindheit gefehlt.« Dr. Sutherland nickte bestimmend. »Deshalb ist dein Geist bis heute verwirrt, nicht wahr?«

Vic musterte den Therapeuten skeptisch. Was für eine Formulierung war das? »Entschuldigung, aber ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wirklich nicht?« Der alte Herr blinzelte überrascht. »Hast du nicht das Gefühl, dass du anders bist als andere?« Er senkte die Stimme. »Belastet dich das nicht?«

Victor rutschte von dem Mann weg, um mehr Abstand zu der Situation zu gewinnen. »Ich dachte, wir reden über meine Mutter.«

»Das tun wir.« Dr. Sutherland zückte ein Tablet aus einer Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. »Aber ich benötige ein möglichst ausführliches Bild von dir, um mit der Therapie zu beginnen.«

»Mit was für einer Therapie möchten Sie beginnen?«

»Weißt du das denn nicht?« Der alte Herr lächelte vertrauensselig. In einem Werbespot hätte er einen netten Opi spielen können, der seinem Enkel ein Karamellbonbon zusteckte. Aber er schien eine dunkle Seite zu verbergen. Im Werbespot würde sich herausstellen, dass das Bonbon vergiftet war. »Wir treiben diese Verwirrung aus deinem Körper und machen einen normalen jungen Mann aus dir.«

Die Unsicherheit schlug in Übelkeit um. Das klang nicht richtig. Dr. Sutherland war ganz sicher kein anerkannter Therapeut. »Hat mein Vater Sie damit beauftragt?«

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt