Der Winter kam, brachte Weihnachten, Kälte, sofern man sie in Kalifornien als solche betiteln wollte, und Dunkelheit mit sich, dann brandete der Frühling auf und ging in den nächsten Sommer über. Bis endlich der Tag anstand, auf den Victor seit seiner Ankunft in Amerika wartete. Sein achtzehnter Geburtstag.
Victor lag auf der ausgeklappten Schlafcouch in Gales Zimmer. Seine Augen tasteten über die Pflanzenranken, die sich unter der Decke durch das Gitter hangelten. Die letzte Dämmerung des Schlafes lag noch auf seinem Gemüt und er überließ es dem Tagesanbruch, sein Bewusstsein langsam zu sich kommen zu lassen.
Seit Vic hier lebte, war die Couch durchgehend aufgeklappt, denn er schlief darauf und sowohl er, als auch Gale, waren zu faul um sie jeden Tag wieder einzuklappen. Weil er am liebsten als Vogel schlief, bevorzugte Gale seine gewohnten Schlafpflanzen. Diese erkannte man daran, dass sie an einigen Stellen plattgedrückte Stellen in ihrem Astwerk vorwiesen. Manchmal musste Victor nach ihm suchen und meistens machte ihm das Spaß. Allerdings erschreckte er sich jedes Mal halb zu Tode, wenn aus mehreren Stellen kleine Vögel aus den Pflanzen flatterten. Drei blau-gelbe Meisen, Gales Schwestern, erschwerten den beiden oft die Zweisamkeit.
An diesem Tag war es ruhig im Zimmer. Victor war vor ein paar Stunden schon einmal kurz wach geworden, weil Gale aufgestanden ist und sich angezogen hat. So leise er in seiner Vogelgestalt auch war, sobald er versuchte, sich als Mensch ruhig zu verhalten, verwandelte er sich in ein Trampeltier. Jede Bewegung war ohrenbetäubend laut und andauern stieß er irgendwo gegen. »Schlaf weiter«, hatte er gesagt, mit einer Hand an einem umstürzenden Baum und der anderen an seinem Hosenbund. Die Erinnerung daran trieb Victor ein Lächeln auf die Lippen.
Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Sonne schien, aber sie hatte Schwierigkeiten, ihre Strahlen durch all die Blätter und Pflanzen zu schicken, die vor der Scheibe standen. Zwischendrin stand ein grauer Blumentopf mit einem kleinen Geldbaum darin. Der Setzling, den Victor einst mit in das Land geschmuggelt hat, prangte als mittlerweile großes Blatt am unteren Rand der Pflanze. Aus ihm wuchsen zwei kleine Stämme empor, die jeweils mit sechs gesunden Blättern versehen waren.
Victor streckte sich, dann stand er auf und schlüpfte in die Anziehsachen, die er sich am Vorabend rausgelegt hatte. Ein schwarzes T-Shirt mit einem dezenten Regenbogenemblem auf der linken Brust und eine dunkelgraue Hose.
Es klopfte an der Tür. Victor hatte kaum Zeit, darauf zu reagieren, als die Klinke heruntergerissen wurde und Akari, Gales jüngste Schwester, hereingestürmt kam. Sie flitzte in den Raum und bewarf Victor mit Papierluftschlangen. Dabei grinste sie so breit, dass man sämtliche Zahnlücken auf einem Blick erkennen konnte. Vor kurzem haben sie ihren sechsten Geburtstag gefeiert und seitdem fieberte sie sehnsüchtig der nächsten Feier entgegen. »Happy Birthday to you!«, trällerte sie und tanzte mit den Luftschlangen durch den Raum. »Happy Birthday dear Victor!« Sie kicherte und warf sich in seine Arme. »Happy Birthday to you!«
Victor fing sie auf und zog sie näher an sich, um sie in eine dankende Umarmung zu hüllen. »Du hast dran gedacht«, stellte er fest und sah ihr amüsiert in die Augen. Inzwischen war er ein anerkanntes Mitglied der Familie. Die anfänglichen Hemmungen brachte ihm keine der Schwestern mehr entgegen. Sehr zum Leidwesen der Privatsphäre mit Gale.
»Natürlich.« Sie streckte ihm zehn Finger entgegen, dann nochmal acht. »So alt, ne?«
Er nickte anerkennend und ließ seine Augen über ihre Haare schweifen. Das gräuliche Blau hatte innerhalb der letzten Monate an Farbe dazugewonnen, damit bestätigte sich Victors Verdacht, dass die Haarfarbe der magischen Vögel mit ihrem Federkleid im Zusammenhang stand. Jemand, vermutlich Samantha, hatte Akari zwei Haarknoten verpasst, durch welche sie ein bisschen an einen Teddybären erinnerte. Links und rechts an ihren Schläfen setzten sich gelblich-blonde Strähnen ab, die ihr vor den Ohren ins Gesicht fielen.
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Mitternachtsgesang
FantasyAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...