»Ich bin froh, dass du mich nicht gegessen hast.«
Gale saß auf der Schreibtischplatte und beobachtete Victor beim Schuheanziehen. In seinen Mundwinkeln lauerte ein unsicheres Grinsen. Er ist in der Nacht immer wieder aufgeschreckt und hat den Ast zum Schlafen gewechselt.
Victor widmete ihm einen überraschten Blick. »Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich töten?« Auch er hatte schlecht geschlafen. Die Nacht hing ihm schwer in den Knochen und er brauchte mehrere Versuche, um seinen linken Schuh zuzubinden.
Gale zuckte mit den Schultern. »Das ist das erste und wichtigste, was wir eingetrichtert bekommen. Sag keinem Menschen, was du bist, sonst wird er dich essen.«
War das vergleichbar mit den Belehrungen, dass man als Kind zu keinem Fremden ins Auto steigen sollte? Victor runzelte die Stirn. »Ich werde dich niemals essen.« Der Satz stolperte über seine Zunge. Wie absurd, so etwas zu sagen. Aber ich werde der Frau einen Besuch abstatten, die es vorhatte. Er schüttelte sich. Seine Suche hat tatsächlich einen Treffer ergeben. Es gab ein grünes Haus mit Spitzdach, das von Bäumen umgeben mitten in einer Siedlung stand. Dort würde er bei der nächsten Gelegenheit hinfahren. Gale hatte er nicht erzählt, dass er die Adresse gefunden hat, um ihn nicht noch mehr zu verunsichern.
Vic Stand auf und widmete sich der Tür. An diesem Tag würde er seinen Vater bei seinem Arbeitsalltag in der Villa begleiten. »Ich bereite meinen Dad darauf vor, dass ich ihm heute meinen Schwimmlehrer vorstelle.« Wenn er Gale einen normalen Alltag vorspielte, dann könnte er vielleicht unbemerkt zu Jolies Haus fahren und die Vögel befreien, ohne dass er etwas merkte.
Gale nickte. »Gut, dann überlege ich mir einen Lebenslauf für diese Rolle.« Er grinste schief. »Soll ich ein engagierter Schwimmlehrer sein oder eher bescheiden?«
»Wie du magst.« Victor war gedanklich bei seinem Plan. Sollte er den Bus nehmen? Sein Dad erwartete ihn im Büro. Er könnte sagen, dass er etwas erledigen muss, und wäre noch vor dem Mittagessen zurück. Keiner würde etwas mitbekommen. »Ich lasse mich überraschen.« Zum Abschied schenkte er Gale ein Lächeln.
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Der Arbeitstag in der Villa war zwar vielseitiger als in der Agentur, aber er unterschied sich kaum vom sonstigen Alltag hier. Remus fragte die Frauen nach ihrem Wohlbefinden und veranlasste, dass ihre Wünsche erfüllt wurden. Candy bat um einen bestimmten Badezusatz und er rief einen Angestellten, der sich um einen Einkauf kümmern sollte. Serenity fühlte sich krank und Remus kümmerte sich darum, dass eine Ärztin ins Haus kam. Dr. Adams war die einzige Medizinerin, welcher er wirklich vertraute, das betonte Remus auffallend oft. Ebenso auffällig war, dass er keine der noch so kleinen Aufgaben seinen Frauen überließ. Niemand musste die Villa verlassen. Oder durften sie es nicht?
»Ich lege gleich eine Pause ein«, merkte Victor an, während sie durch den Flur schlenderten.
»Später.« Remus verharrte vor einem Bild, um es gerade zu rücken. »Du musst dir alles genau ansehen und darauf achten, dass es ordentlich ist.«
Victor seufzte. Er schob die Hände in die Taschen und sah in Richtung Fenster. Am Ende der langen Flure in den oberen Etagen befanden sich überall welche, die vom Boden bis zur Decke gingen. »Ich bin höchstens eine Stunde weg.« Der Bus brauchte 25 Minuten bis zur Siedlung. Und zurück? Er wäre niemals pünktlich wieder da. »Vielleicht eineinhalb Stunden.«
Remus lugte mit gerunzelter Stirn herüber. »Wo willst du denn hin?« Er drehte sich, um seinem Sohn die volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Nicht nach draußen.« Das befahl er, noch bevor eine Antwort kam.
»Ich muss nur-«
»Nicht nach draußen.« Remus' Lippen wurden dünner. »Du weißt, dass du das nicht darfst.« Er wartete keine weiteren Worte ab und führte Victor zu seinem Büro.
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Mitternachtsgesang
FantasíaAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...