In den folgenden Tagen ging Victor seinem Vater aus dem Weg. Das schien diesem nichts auszumachen, denn knapp zwei Wochen lang kam er nicht in das Zimmer seines Sohnes.
Nur als der Tierarzt da war, um die Nachtigall zu untersuchen, haben sie sich einmal kurz gesehen. Victor hatte beteuert, dass er den Termin ohne Remus wahrnehmen könne und damit ein Vieraugengespräch mit dem Arzt geführt.
»Sie hat sich schnell erholt.« Der Arzt beugte sich vor, um die Federn der zusammengeklebten Flügelspitzen mit einer kleinen Schere auseinanderzuschneiden. »Das überrascht mich. Du hast viel Mühe reingesteckt, oder?«
Victor kniete vor dem Tisch und sah dem Vogel in die Augen. Sobald die Flügel frei waren, flatterte er damit, als wolle er Rost von seinen Gelenken schütteln. Der linke Flügel hakte etwas, als befände sich ein Widerstand in der Schulter, aber er bewegte sich immerhin. Victor lächelte. »Ich hatte viel Zeit übrig.«
»Achte darauf, dass er weitere zwei Wochen nicht fliegt.« Der Arzt bewegte die Flügel abwechselnd und nickte zufrieden, ehe er von dem Tier abließ. »Hast du den Besitzer ausfindig gemacht?«
»Noch nicht.« Ich habe nicht mal nach ihm gesucht. Victor richtete sich auf. Er hielt der Nachtigall seine Hand hin und wartete, bis diese auf seinen Zeigefinger hüpfte. Vorsichtig führte er sie an seine Schulter, dort ließ sie sich nieder. Das hatte er lange mit ihr geübt. Das leise Scharren ihrer aneinanderreibenden Federn kribbelte in seinem Ohr. »Aber ich kümmere mich darum.«
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Später, in seinem Zimmer, tat er alles andere als das. In Victors Hand ruhte zwar sein Smartphone, aber er sträubte sich davor, nach einem Vogelzüchter in der Nähe zu suchen. Was, wenn er ihn wirklich fand? Er sah zu der Nachtigall, die in ihrem Käfig herumhüpfte. Er würde sie vermissen.
Im Hintergrund lief der Fernseher. Vic schaltete ihn meistens ein, um Geräusche um sich zu haben und die Einsamkeit aus seinem Zimmer zu verdrängen. Ab und zu hob er den Blick vom Smartphone, um den Nachrichten zu folgen.
Obwohl die Sonne an diesem Tag besonders heiß war, fror er. Sein Hals fühlte sich kratzig an. Hoffentlich werde ich nicht krank. Vic verlagerte seine Sitzposition. Als er zum Smartphone zurücksah, streifte der Blick sein Handgelenk. Von der groben Berührung seines Vaters war nichts mehr zu erkennen, aber seelisch war an dieser Stelle eine Narbe zurückgeblieben. Nie zuvor hat ihn jemand so angefasst. Was, wenn er ihn weiter provoziert hätte?
Er schüttelte sich und suchte im Internet nach einem Vogelzüchter in Malibu. Nichts. Dann gab er Vogelzüchter Kalifornien ein. Dazu fand er ein paar Einträge, aber die meisten waren weit weg oder sie züchteten keine ausländischen Wildvögel. Er investierte nicht viel Energie in die Suche, denn er hatte insgeheim kein Interesse daran, den Besitzer seiner Nachtigall zu finden.
Seufzend senkte er das Smartphone, um zu dem Vogel herüberzusehen. Dessen Aufmerksamkeit lag beim Fernseher. Victor schmunzelte. Es sah beinahe so aus, als würde er das Programm verfolgen.
Die Nachrichtensprecherin berichtete wieder von den Vermissten. Seit Victors Ankunft waren zwei weitere Personen verschwunden und es gab immer noch keine Hinweise.
Noch einmal erhaschte sein Handgelenk Victors Aufmerksamkeit. Die Erinnerung an die Auseinandersetzung mit seinem Vater zuckte durch seinen Kopf. Er strich sich über den Unterarm und seufzte genervt. Die Albträume mit seiner Mutter haben sich zwar beruhigt, aber mittlerweile träumte er von seinem Vater, der ihn in einen Käfig sperrte und ihn zwang, jemand anderes zu sein.
Er schob sich vom Bett und ging auf seinen Schrank zu. Dort holte er seinen Turnanzug heraus. Er zog sein T-Shirt aus und erschauderte, als die warme Luft seine nackte Brust streifte. Irgendwie war es dennoch kalt. Er zog die Hose aus und schlüpfte in den schwarzen Anzug. »Ich lass mir doch nichts verbieten«, schnalzte er und streifte ein weites Shirt über. Aus einer Kiste, im Fußraum des Schrankes, holte er seine Ballettschuhe heraus. Damit setzte er sich auf den Boden und schnürte sie um seinen Waden zusammen. Die Schnürung beherrschte er noch wie im Schlaf. Solche Dinge verlernte man wohl nicht.
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Mitternachtsgesang
FantasíaAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...