Victor verharrte bei dem Käfig. Bereit, Jolie wegzustoßen, sobald sie sich ihm näherte.
Lange machte sie keine Anstalten, sich zu rühren. Sie redete mit William, als könne sie damit auf wundersame Weise plötzlich doch ein Aufwachen erwirken. Dabei strich sie seine Haare zurück und lächelte sehnsüchtig. Wenn nicht der Mord an unzähligen Lebewesen für diese Idylle verantwortlich gewesen wäre, hätte Victor sogar mitfühlen können. Er hätte sich gewünscht, dass Jolie und William eine friedliche Zukunft teilten. Aber nicht zu diesem Preis.
Irgendwann runzelte Jolie die Stirn. Ihr Kopf fuhr herum und sie nahm Victor in Augenschein. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie fror in der Bewegung ein.
Victor zupfte am Saum seines Shirts und erwiderte ihren Blick. Obwohl sein Gesicht vom Weinen aufgequollen aussehen musste, bemühte er sich, sie zornig anzusehen. »Was ist?« Er schnaubte abgeneigt. »Ich lass nicht zu, dass du sie umbringst.«
Jolies Mundwinkel sanken. Sie nickte verstehend und stand wortlos vom Bett auf. Ihre Körperspannung wirkte verkrampft. Mit geweiteten Augen behielt sie Victor im Blick. Ihre Atemzüge gingen langsam und schwerfällig.
Was ist los mit ihr? Vic runzelte die Stirn. Vorsichtig nahm er den Käfig auf, um ihn mit sich zu nehmen. So weit von Jolie entfernt, wie es in dem Raum möglich war. Auf der anderen Seite des Bettes setzte er sich auf die Kante und stellte den Käfig auf seine Oberschenkel. Mit beiden Händen umklammerte er ihn.
»Das ist es«, krächzte Jolie so leise und fassungslos, dass ihre Stimme kaum zu vernehmen war. Sie lachte verzweifelt, ebenso leise. »Das habe ich gesehen! Das ist es!« Ihr Blick fuhr herum und sie starrte William erwartungsvoll an. Die Sekunden schritten spürbar voran. Jede nahm ein Stückchen Hoffnung mit sich und verstaute sie im zeitlosen Nichts der Unendlichkeit.
Victor presste die Lippen aufeinander. Er umklammerte den Käfig noch fester. Die Vögel im Inneren flatterten unruhig. Die Schläge der Flügel gegen das dunkle Holz gingen als Beben in seine Arme über. Erwartungsvoll sah er William an.
Dessen Haut schimmerte nicht mehr. Kein einziger Punkt deutete auf das grünliche Leuchten hin. Die Magie sickerte aus seinem Körper. Stetig und lebensraubend, wie die fortschreitenden Sekunden.
Warum passierte nichts?
»Gib mir den Käfig!« Jolie lief unruhig durch den Raum. Wie ein Tiger, dessen Gehege zu klein war. Von links nach rechts und zurück. Sie schnippte nervös mit den Fingern und mahlte mit den Zähnen. »Ich muss sie vorbereiten.«
»Nein.« Victor drückte den Käfig so fest an seine Brust, dass ihm die Luft wegblieb. Seine Augen bohrten sich in die geschlossenen Lider des schlafenden Jungen. Bitte wach auf. Wach einfach auf.
Nichts.
William verblieb in seinem leblosen Zustand, mehr denn je abhängig von der Beatmungsmaschine, die über Mund und Nase stülpte. Die Augenlider flatterten, aber das war nicht ungewöhnlich. Leider.
»Komm schon.« Victor schob seine Finger zwischen die Gitterstäbe, bis sich Striemen auf seinen Kuppen abzeichneten. Sein Herzschlag war im Hals zu spüren. Warum wachte er nicht einfach auf?
Jolie lief um das Bett herum. Gierig zitternd streckte sie ihre Hände dem Käfig entgegen. »Gib ihn her.«
»Niemals!« Victor wich zurück, aber es gab nicht viel Platz, um auszuweichen. Sein Blick zuckte durch den Raum. Tür? Verschlossen. Fenster? Mit Pappe beklebt.
Er stutzte. Mit Pappe beklebt? Er rutschte vom Bett und duckte sich, um Jolies Griff zu entgehen. Der Käfig glitt ihm dabei fast aus den Händen. Panisch kreuchte er über den Boden, auf das Fenster zu. Den Käfig schob er vor sich her. Das gelang ihm nur kurz, denn Jolie stand nicht einfach nur da und ließ ihn gewähren, wie es in seiner Situation praktisch gewesen wäre.

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Mitternachtsgesang
FantasyAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...