Kapitel 36: Santa Monica Pier

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Gale beharrte auf seinen Plan, Hollywood anzusteuern. Egal wie oft Victor protestierte und seine Idee schlechtredete, er beteuerte ununterbrochen, dass er nur ohne die magische Tätowierung Frieden finden könnte.

Von Malibu nach Hollywood war es nicht weit. Es lag in der Nähe von LA. Auf dem Weg zur Agentur haben sich Remus und Victor einmal über die glamouröse Filmstadt unterhalten. Für viele Leute wäre es wohl ein absoluter Traum, diesen Bereich von Amerika zu bereisen. Aber Victor hätte spontan eine Handvoll andere Träume parat.

Sie nahmen den Küstenhighway, vorbei am Santa Monica Nationalpark. Links erstreckten sich hügelige Landschaften und rechts begleitete sie das Meer wie ein ruhespendender Freund.

Victor hatte sein Smartphone mit dem Auto verbunden, um Musik abzuspielen. Er hat einfach seine Trainingsplaylist gestartet, weil sie voll war mit Liedern, die ihn an früher erinnerten. Das lenkte ihn von den belastenden Sorgen ab, die wie ein gigantischer Felsen über seinem Kopf lauerten, bereit, jederzeit hinabzufallen und ihn zu erdrücken.

Bei einem Lied sank er tiefer in den Sitz und gab sich einem Lächeln hin. Cosmic Dancer von T. Rex. »Meine Mum meinte mal, das Lied würde mich beschreiben.« Er lachte leise. Warum er das plötzlich erzählte? Vielleicht, weil es sich richtig anfühlte, in die harmonische Stille hinein über seine Mutter zu reden.

»Bist du aus ihrem Bauch getanzt?«, fasste Gale den Songtext auf und schielte grinsend zur Seite.

»So ähnlich.« Victor sang den Text in Gedanken mit. Eigentlich handelte er von Reinkarnation. Der Sänger berichtete, wie er aus der Gebärmutter, durch sein Leben, bis in sein Grab tanzte, um danach festzustellen, dass der Tanz mit der nächsten Geburt weiterging. Aber wörtlich zählte er einfach nur auf, in welchen Situationen er sich der rhythmischen Leidenschaft hingab. »So wie du«, hatte seine Mutter gesagt und freundlich gelacht. »Wenn das so weiter geht, dann tanzt du auch nahtlos ins nächste Leben über.«

Aber jetzt nicht mehr. Victors Gedanken wurden steinschwer und legten sich in seinem Magen nieder. Er würde vielleicht nie mehr tanzen. Und seine Mutter würde er auch nie mehr wiedersehen. Vielleicht tanzte sie in diesem Moment in ihr nächstes Leben? Eine verlorene Träne rollte über Victors Wange und er drehte den Kopf, um sie vor Gale zu verbergen. Er wartete einen Moment, ehe er sie unbemerkt wegwischte, dabei ruhte sein Blick auf der dunkelblauen Unendlichkeit des Meeres.

Nach einer Weile erhaschte ein Riesenrad seine Aufmerksamkeit. Und eine Achterbahn? »Ist das der Santa Monica Pier?«

Gale zuckte zusammen. Scheinbar war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen. Er schüttelte sich und sah kurz nach rechts. »Ja.« Er lächelte schief. »Man, wir sind ja schon weit gekommen.«

»Legen wir da eine Pause ein?« Victors Augen tasteten über die verlockende Silhouette, die mit jedem gefahrenen Meter näherkam. Möwen kreisten über dem Steg, der über das Meer hinausragte.

»Ne.« Gale schüttelte entschieden den Kopf. »Wir sollten keine Pausen machen.«

Seufzend kehrte Vic den Blick vom Pier ab. Schade. Er hätte sich gerne ein paar der Attraktionen im Umkreis angesehen. Immerhin lebte er schon seit fast vier Monaten hier, aber abgesehen von der Villa seines Vaters hatte er kaum etwas gesehen. »Das nächste Ziel ist also irgendein ominöser Hinterhofchirurg, der dir dein Bein abnimmt?« Remus kannte sicher einen, sein Bekanntenkreis schien zum großen Teil aus fragwürdigen Medizinern zu bestehen. »Verlockend.«

Als hätte er auf ein Zeichen gewartet, rief sein Vater erneut an. Das aktuell laufende Lied brach ab und wich einem nervtötenden Klingeln. Vics Körper spannte sich an, während er den Anruf ignorierte. Zwanzig Sekunden dauerte es, dann übernahmen wieder die Klaviertöne, die Victor meistens beim Aufwärmen gehört hat.

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