Victor und Gale fuhren in Hollywood ein und für einen Augenblick wurden sie von der Faszination dieser Stadt abgelenkt.
Die Bauwerke waren, anders als in Malibu, niedrig genug, um dem Himmel Raum zu bieten. Anstelle von Laubbäumen, wie Vic es von zuhause kannte, befanden sich auf den Gehwegen meterhohe Palmen. Vereinzelte Gebäude erweckten einen verspielten Eindruck, sodass man das Gefühl hatte, durch eine Spielzeugstadt zu fahren. Aus einem Restaurantdach brach eine Dinosaurierstatue und überall blitzten Souvenirshops hervor. Die Kinos und Studios hatten ein übertriebenes Ausmaß. Warum gab es überhaupt mehrere? Das gehörte sich für eine Filmstadt wohl so.
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Um nach jemandem zu suchen, der Entfernungen von Tattoos vornahm, suchten Vic und Gale ein Tourismusbüro auf und unterhielten sich mit der dortigen Angestellten. Victor hielt sich zurück, er hatte vorsichtshalber wieder die Sonnenbrille seines Vaters aufgesetzt, um nicht direkt als Remus' Sohn erkannt zu werden.
»Du kommst mir bekannt vor«, sagte die Frau hinter dem Schalter trotzdem, sah dabei aber Gale mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ich?« Gale legte seine Hand auf die Brust und blinzelte erstaunt. Vergewissernd sah er Victor an. Das hatten sie nicht eingeplant. »Woher denn?«
Die Frau grübelte einen Moment. Nebenbei suchte sie auf ihrem Computer verschiedene Ärzte, Kosmetikstudios und Tattooläden heraus. Während sie zum Drucker lief, murmelte sie leise vor sich her. »Ich habe dein Gesicht schon einmal gesehen. Verrätst du mir deinen Namen?«
»Gary«, antwortete Gale eilig.
Der Deckname verschmolz immer mehr mit ihm. Kurz dachte Victor an das Gesicht seines Vaters, als dieser gesehen hat, wie sich die Nachtigall verwandelte. Wie er »Mister Swimwater?« gestammelt hat. Sein Blick war unbezahlbar gewesen. Die Erinnerung trieb ein Schmunzeln auf Vics Gesicht, aber sie hinterließ auch den bitteren Nachgeschmack von Schuld. Hoffentlich machten sich die anderen nicht allzu große Sorgen um ihn.
Mit gerunzelter Stirn legte die Frau die ausgedruckten Papiere auf den Tisch, der zwischen ihr und den Touristen eine Barriere darstellte. »Hm.« Sie musterte Gale von oben bis unten. »Du siehst aus wie Gale Nine... Nei... Naichi-irgendwas? Wirst du nicht vermisst?« Ihre Stimme schwoll an. »Ich kann mich täuschen, aber ich habe mich viel mit den ganzen Meldungen befasst. Du bist es, oder?«
Gales Augen wurden mit jedem Wort größer. Dass jemand ihn wiedererkennen würde, hatten sie nicht eingeplant. »N-nein, Sie täuschen sich«, stammelte er und lächelte verzweifelt. Wie auf Knopfdruck wurde sein Blick ernst. »Sie denken, dass alle Asiaten gleich aussehen, oder?«
Die Antwort löste ein Stöhnen aus und die Frau winkte entschieden ab. »Aber nein!« Sie verzog das Gesicht und senkte den Blick mit hochroten Wangen. »Entschuldige, es tut mir wirklich leid. Ich war mir nur so sicher.« Mit höchster Sorgfalt legte sie die ausgedruckten Adressen in Gales Hände. »Machen wir keine große Sache hieraus, okay? Ich wünsche einen schönen Tag in Hollywood.«
Gale steckte den Zettel in seine Hosentasche und seufzte. »Schon gut.« Er leckte sich über die Lippen und hob die Stimme noch einmal an: »Können Sie ein Motel empfehlen, in dem üblicherweise nicht so viel Betrieb ist?«
Sie rümpfte die Nase und lehnte sich vor, um zu flüstern. »Solche Motels sind meistens nicht ohne Grund schlecht besucht.«
»Egal.« Gale presste die Lippen aufeinander.
Die Frau zuckte mit den Schultern und widmete sich dem Computer, um noch eine Liste mit Adressen herauszusuchen.
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Weil sie es für sinnvoll hielten, dass Gale mit einem frisch gelaserten Bein einen Rückzugsort parat haben müsste, kümmerten sie sich zunächst um einen Schlafplatz. Sie fuhren die Adressen der Motels ab, aber bei den meisten herrschte zu viel Betrieb. Eigentlich wollten sie vermeiden, von den falschen Leuten gesehen zu werden. Wenn sie wirklich untertauchen wollten, mussten sie dafür sorgen, dass man sie nicht in einem unachtsamen Moment erkannte.
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Mitternachtsgesang
FantastikAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...