Kapitel 16: Metamorphose

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Ein Vogel hat sich in einen Menschen verwandelt. Vor Victors Augen. Die Ohnmacht fühlte sich nach einem zeitlosen Raum an. War er für Stunden bewusstlos oder nur für Sekunden? Als er zu sich kam, fühlte sich die Atmosphäre unverändert an.

»Victor?«

Woher kam die Stimme? Vic schlug blinzelnd die Augen auf. Warum schlief er im Sitzen? Er hatte etwas Seltsames geträumt. Etwas Absurdes, worauf seine Fantasie niemals kommen würde. Woher hatte sein Gedächtnis solch einen Traum?

Jemand rüttelte an seiner Schulter. »Hey, wach auf.«

Victor richtete seine Brille und fokussierte den Blick. Schwindel umschwirrte seinen Kopf. Er sah ein dunkelbraunes Augenpaar. Das zugehörige Gesicht war kaum eine Handbreit von seinem entfernt. Ein süßer Geruch kitzelte in seiner Nase. Getrocknete Kirschen auf rauchigem Walnussholz. Gary?

»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Die Stimme raunte in unmittelbarer Nähe von Victors Ohr. »Brauchst du Wasser?«

Victor drückte den Fremden von sich und schüttelte den Kopf. Dann noch einmal. Seine Gedanken blockierten. Er blinzelte, aber der Mann verharrte an seiner Position. Direkt vor ihm, mit schiefliegendem Kopf und einer Tasse in der Hand. Diese drückte er ihm in die Hand. »Trink etwas.«

Victor nahm die Tasse entgegen, aber er war nicht imstande, sich zu rühren. Seine Augen ertasteten den Fremden von Kopf bis Fuß, immer wieder. Rotbraunes Haar, wie Kastanien bei Sonnenuntergang. Schwarzbraune Augen und ... einer von Vics Pullovern? Er runzelte die Stirn. Der Fremde, nein, Gary, hatte sich an seinem Kleiderschrank bedient. »Du bist du?« Victor schüttelte sich. Die Zunge lag verknotet in seinem Mund. »Wie? Was? Wie?«

Gary lächelte schief. »Trink.« Er schob Victors Hand näher an seinen Mund, bis die Tasse an seine Unterlippe stieß. »Ich erkläre es dir.«

»Nein.« Victors Stimme hallte im Inneren der Tasse. Nein, das ist nicht möglich. Sein Magen drehte sich um. Übelkeit kroch seine Speiseröhre empor. Musste er sich übergeben? Bevor das geschehen konnte, kippte er Wasser in seinen Mund. Es schmeckte chlorhaltig, wahrscheinlich kam es aus dem Waschbecken im Bad. Mit gerümpfter Nase senkte er die Tasse. Noch einmal sah er sein Gegenüber an. »Ich verstehe das nicht.«

Der rotbrünette Mann lehnte sich auf die Arme zurück. Er saß vor Victor auf dem Boden und trug dessen Pullover und Hose, als wäre es seine eigene Kleidung. Beides war ihm zu groß. »Ich habe dir ja auch noch überhaupt nichts erklärt.« Er grinste verschmitzt. »Kein Wunder, dass du nichts verstehst.«

Victors Finger kribbelten. »Wer bist du?« Er drückte die Tasse zusammen, bis es in seinen Fingern ziepte.

»Das kommt darauf an.« Er verwob seine Hände ineinander. »Gary?« Ehe er fortfuhr, atmete er schwerfällig. »Ich heiße eigentlich Gale. Aber Yoru hört sich aus deinem Mund so schön an.«

»Das ist nicht möglich.« Victor stöhnte und zog seine Beine an, um die Arme um die Knie zu schlingen. Sein Verstand weigerte sich, die Realität zu glauben. Er blockierte sich vor dem, was er mit eigenen Augen sah. Aber ... Er hatte beobachtet, wie sich Yoru in einem Menschen verwandelt hat. Auf dem Bettlaken schimmerten noch immer ein paar Glitzerpartikel der Metamorphose. Unmöglich. Victor schüttelte sich.

»Ich kann verstehen, dass du überfordert bist.« Gales Pupillen zuckten über Victors Gesicht. »Eigentlich darf ich das niemandem zeigen.«

»Kannst du das nochmal machen?« Victor drückte seine Knie so fest an seine Brust, dass ihm das Atmen schwerfiel. »D-diese Verwandlung?« Er lachte verzweifelt, weil die Forderung zu unnatürlich klang. Yoru war Gary, nein, Gale? Die Nachtigall war ein Mensch? Beides auf einmal?

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt