Kapitel 17: Zu viele Fragen

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Victor hatte Gale in den goldenen Käfig gesetzt, die Tür aber offenstehen lassen.

Der rotbraune Vogel lag aufgeplustert in der Käfigmitte und schlief.

Seit Stunden saß Vic am Bettrand und starrte ihn an. Ab und zu öffnete der Vogel ein Auge und gurrte. Geh schlafen, schien er sagen zu wollen. Konnte er in dieser Form überhaupt wie ein Mensch denken? Diese Frage fügte Victor seinem gedanklichen Fragenkatalog hinzu. Sobald Gale sich wieder verwandelte, würde er ihn mit Wissensdurst bombardieren.

Es war mitten in der Nacht und der Mond erhellte die weitläufige Gartenanlage der Villa. Kaltblaues Licht schimmerte durch die Vorhänge in das Zimmer. Victors Körper war müde, aber sein Geist konnte nicht an Schlaf denken. Wie sollte er zur Ruhe kommen, wo er doch brühwarm von einer neuen Spezies erfahren hatte? Von einer geheimen Hybridart. Mensch und Vogel. Beides auf einmal. Er schüttelte sich. »Wann hast du wieder genug Energie?«

Gale öffnete die Augen, nur so weit, wie es zum Herüberschielen notwendig war. Er öffnete den Schnabel und fiepte langsam. Anschließend nickte er mit dem Kopf in Richtung Bett.

Sollte das eine Aufforderung sein? Victor sah zum Bett und verzog das Gesicht. »Ich kann nicht schlafen.« Hättest du mit deiner Transformationsaktion nicht warten können, bis du genug Energie zum Reden hast? »Hast du eine Ahnung, wie viele Fragen ich habe?«

Gale krächzte leise. Diesmal hielt er die Augen geschlossen.

»Schon klar, du brauchst Schlaf, aber ich bin verwirrt.« Victor legte sich ins Bett und schlug die Decke über seine Beine. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah an die mondbeleuchtete Zimmerdecke. Gale gurrte leise. Irgendwie passte es nicht, ihn so zu nennen. Der kleine Vogel war doch Yoru. Seine dramatisch lustige Nachtigall. Aber sie war ein Mensch. Ein Menschenvogel? Oder Vogelmensch? Gab es einen Namen für ihre Spezies? Victor zückte sein Smartphone und suchte nach Hinweisen zur Existenz dieser Mischwesen.

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Als Gale endlich aufwachte und seinen Körper streckte, lag Victor auf der Seite, auf seinem angewinkelten Arm gestützt. Er beobachtete ihn und seufzte erleichtert, als der kleine Kopf endlich über den Käfigrand lugte.

»Guten Morgen.« Vics Stimme klang kratzig. Er hat nicht geschlafen. Höchstens waren ihm ein paar Minuten Dämmerzustand vergönnt gewesen. Ansonsten hat er stundenlang wach gelegen und gegrübelt. Die Suche im Internet hat ihm nichts eingebracht, außer noch mehr Fragen. »Du musst mir eine Millionen Fragen beantworten.«

Der Vogel streckte die Flügel und quäkte langgezogen. Er schüttelte sich, wobei seine Federn sich raschelnd aufbauschten. Dann hüpfte er an den Rand der Käfigöffnung und flatterte zu dem Wäschehaufen, den er am Vorabend hinterlassen hatte.

Goldener Nebel verhüllte den Körper der Nachtigall. Sie wuchs über den Radius des Schimmers hinaus und steckte beim Wachsen ihre Beine in Victors Hose. Als Gale ein Mensch wurde, war er untenrum angezogen. Seinen schlanken Oberkörper verhüllte er mit dem Pullover, den er sich einfach genommen hatte. Er blieb am Boden sitzen und grinste Victor schief an.

Vic verharrte seitlich liegend im Bett. Sein Magen drehte sich um. Schon wieder hat sich der Vogel in einen Menschen verwandelt. Er erwiderte das Grinsen.

»Du hättest schlafen sollen.« Gales Augenbrauen zogen sich mahnend zusammen.

Vic tastete das rundliche Gesicht mit den Augen ab. Er addierte eine Maske hinzu und schluckte. Das war wirklich Gary, oder? Natürlich war er es. »Erzähl mir alles.«

Gale stand vom Boden auf. Er zog den Schreibtischstuhl durch den Raum und klemmte ihn unter die Klinke der Zimmertür. Dann setzte er sich drauf. »Du darfst niemandem etwas von dem erzählen, was ich dir sage.«

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt