Kapitel 51: Ballett

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Ein paar Monate nach Victors achtzehntem Geburtstag hatte sich eine Art von Ruhe eingestellt, die endlich zuließ, dass der junge Erwachsene das Kapitel aufschlug, das er längst verloren geglaubt hatte.

Ballett.

Er stand vor einem Theatersaal in Los Angeles und starrte auf den Zettel, welcher innen an der Glastür klebte. Vortanzen für das neue Ensemble. Er lachte ungläubig und ein Schütteln ging durch seinen Körper. Was um alles in der Welt hatte ihn hergetrieben? Diegos Schwester. Sie arbeitete hier.

Gale stand bei ihm, mit einer Sonnenbrille auf der Nase und einem Dutt, der vermuten ließ, dass er derjenige war, der hier vortanzen wollte. Ein Grinsen zierte seine Lippen. »Worauf wartest du?« Er zog die Brille herunter, um Vic fragend anzusehen. Im Sonnenlicht glitzerten seine Augen golden.

Victor hob seine Hand, um seine Brille zu richten, aber er trug Kontaktlinsen, also strich er stattdessen eine Haarlocke hinter sein Ohr. »Was, wenn ichs nicht hinbekomme?«

Gale zuckte mit den Schultern. »Dann tanzt du woanders vor.«

Victor seufzte. »Und wenn ich es überhaupt nirgendwo hinbekomme?«

»Dann fängst du im nächsten Jahr wieder hier an.« Gale spitzte die Lippen. »Das wiederholst du so lange, bis du irgendwo aufgenommen wirst.«

»Na klar und während ich eine Absage nach der anderen kassiere, tue ich einfach so, als würde das nicht meine Motivation bremsen?« In Victors Hals bildete sich ein Kloß. »Vielleicht sollte das einfach ein Traum bleiben.«

Gale zückte sein Smartphone und tat mit einer übertriebenen Handbewegung so, als würde er einen Anruf starten. Mit verstellter Stimme imitierte er ein Telefonat. »Hallo Mister Cavea? Ja, nee ... Es tut mir leid, aber all die Vorbereitung war umsonst. Victor will doch nicht mehr tanzen. Schade, aber er hat es sich anders überlegt.« Er weitete die Augen und nahm Blickkontakt zu Victor auf. »Wie teuer waren die Vorbereitungsstunden?«

Victor lachte. »Ach komm schon.« Er stieß die Tür auf und verschaffte sich Eintritt zum Theater.

Gale steckte sein Smartphone weg, seufzte zufrieden und folgte ihm. Im Inneren des Gebäudes nahm er die Sonnenbrille ab.

»Du hast nicht wirklich mit meinem Dad telefoniert, oder?« Vic lugte zu ihm herüber.

»Doch und er ist sehr enttäuscht, dass du aufgeben willst.« Gale verkniff sich ein Grinsen.

Victor zog die Augenbrauen hoch, lachte noch einmal und näherte sich dem Empfangstresen. Dort saß eine Frau mit großen Locken, die wie eingedrehtes Geschenkband über ihre Schultern fielen. Sie lächelte freundlich und musterte Gale und Victor abwechselnd. »Seid ihr zum Vortanzen da?«

Vic nickte. »Ich habe gestern angerufen.« Ob das überhaupt relevant war? Vorher irgendwo anzurufen war eine so deutsche Eigenschaft, dass Gale sich den ganzen Abend darüber lustig gemacht hat.

Die Frau schielte kurz zur Seite, schien nachzudenken, dann nickte sie. »Ich erinnere mich. Camilas Bruder hat von dir erzählt. Du kannst dich dort umziehen.« Sie deutete zu einer Tür, die sich im Hintergrund der Eingangshalle befand. Es war eine schwarze Metalltür, die vor der schwarzen Wandfarbe in der Ecke kaum auffiel. »Dein Freund darf zusehen.« Ihr Finger wanderte durch den Eingangsbereich zu einer goldenen Flügeltür. »Zuschauer gehen dort rein.«

Victor unterdrückte das Flattern in seinem Bauch und schluckte die Aufregung, welche drohte seine Worte in ein Stammeln zu verwandeln. »Vielen Dank.« Er angelte nach Gales Händen und sah ihm in die Augen. Ein unsicheres Lächeln zuckte über seine Lippen, bevor er ihn küsste, um anschließend durch die schwarze Tür zu verschwinden.

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