Kapitel 41: Probieren geht über Studieren

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Vier Tage. Das war nichts. Wie sollte Victor in vier Tagen ein Komaspezialist werden? Oder hoffte Jolie auf eine Art Eingebung, die ihn in der gezwungenen Atmosphäre plötzlich ereilen würde?

Weil sie ihm nicht traute, hat Jolie Victor über Nacht in ein Badezimmer ohne Fenster im oberen Stockwerk eingesperrt. Immerhin hatte sie aus dem gefliesten Raum mithilfe eines Klappbetts eine Art ungemütliches Gästezimmer gezaubert. Als Minus 3 Sterne Unterkunft »nothing inclusive« könnte sie mit der richtigen Marketingstrategie vielleicht sogar eine Marktlücke füllen. Es gab sicher Leute, die nach derartigen Abwechslungen suchten. Weil die Rohre gluckerten und der Wasserhahn tropfte und die Luft im Raum kalt und klebrig war, würde Victor diese Art der Übernachtung nicht empfehlen.

Der erste Tag lag bereits hinter ihm. Er hat mit William geredet, weil er mal aufgeschnappt hat, dass Komapatienten alles hörten, was man ihnen sagte. Aber all seine Mühen haben keinen Erfolg herbeigeführt. Jolies Bruder schlief weiterhin und träumte vermutlich seinen zweihundert Jahre andauernden Traum weiter. Hatte sein Gehirn in dem kurzen Leben überhaupt genug Inspirationen gesammelt, um für solch einen langen Traum genug Material zu liefern? Oder war sein Dasein einfach eine Ansammlung von Leere?

Was Victor am meisten belastete, war die Vorstellung, dass Gale nicht wusste, was mit ihm passiert war. Hatte Jolie nicht schon auf dem Parkplatz gestanden, als sein Vater aufgetaucht ist? Vielleicht erinnerte sich Oscar an das giftgrüne Auto und Gale würde ihn hierher führen. Nur ... wären sie dann nicht längst da?

Die Tür öffnete sich und Jolie sah Victor erwartungsvoll an. »Konntest du einigermaßen gut schlafen?«

»Nein«, entgegnete Vic ehrlicherweise und stand von dem Klappbett auf, um das Badezimmer endlich zu verlassen. Die ersten drei Schritte gelangen ihm ohne Probleme, aber dann umschwirrte der altbekannte Schwindel seinen Kopf. Er taumelte und fing sich am Türrahmen ab. Sein Herz raste, aber er bemühte sich krampfhaft, sich nichts davon anmerken zu lassen. »Was machst du eigentlich, wenn mein Vater die Polizei hierher schickt?« Er lallte. Mit verzogenem Gesicht sortierte er seine Wortwahl neu. »Er hat mich zuletzt hier gesehen.«

Jolie streckte ihm ihren Arm entgegen, um ihn zu stützen. »Die Polizei war in den letzten Wochen schon drei Mal hier. Sie haben das Haus durchsucht und lediglich Vögel gefunden.«

Lediglich Vögel. Wenn die Beamten gewusst hätten, was es mit denen auf sich hatte, wäre Jolie längst im Gefängnis. »Hast du meinem Dad von der Magie erzählt?« Vic klammerte sich widerwillig an ihren Arm und schlenderte mit zusammengekniffenen Augen über den Flur. Der Schwindel schlug in Übelkeit um.

Jolie brachte ihn bis zur Treppe, dort hielt sie inne und ließ von ihm ab. »Was für Medikamente brauchst du?«

Victor öffnete den Mund. »Das spielt jetzt keine Rol-« beim letzten Wort kribbelte sein Hals, salziger Speichel sammelte sich unter seiner Zunge und er übergab sich direkt an der Treppe. Magensäure tröpfelte die Stufen hinab, als wären sie ein untypischer Zimmerbrunnen.

Jolie zog die Nase kraus. »Setz dich.« Sie drückte ihn in Richtung Wand und zwang ihn, dort auf dem Boden Platz zu nehmen. »Kommt das immer noch von der Vergiftung?«

Victor hielt die Augen geschlossen, damit der Schwindel sich legte. Seit einigen Tagen nahm er die Tabletten nicht mehr. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hing dieses Symptom noch mit der Vergiftung zusammen, aber mit Gewissheit konnte er das nicht sagen. Vielleicht hätte er sich doch um einen Arzt bemühen sollen. »Mir wird andauern schwindelig.«

»Dagegen besorge ich dir nachher etwas. Hast du irgendwelche Eingebungen gehabt, wie man Will wecken könnte?« Sie verschwand im Bad und befeuchtete einen Lappen, um die Treppe zu reinigen. Dabei stöhnte sie angewidert.

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt