Als Victor zu sich kam, bemerkte er sofort, dass er in Bewegung war. Noch bevor er die Augen aufschlug, dröhnten Motorengeräusche an seine Ohren und ein ledriger Geruch stieg in seine Nase. So roch es in neuen Autos. Er blinzelte und schmatzte, weil sich seine Zunge irgendwie rau anfühlte. Wo bin ich? Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und stöhnte benommen.
Vor ihm saß Jolie auf dem Fahrersitz ihres Wagens. Vic war durch ein Gitter von der vorderen Sitzreihe abgeschottet, wie ein Krimineller oder ein Hund, der dazu neigte, während der Fahrt nach vorne zu springen. Er musste seinen Mund befeuchten, ehe er zum Sprechen ansetzte: »Was ist passiert?« Der saure Geschmack des seltsamen Nebels hing noch in seinem Rachen.
»Du wolltest nicht freiwillig mitkommen.« Jolie säuselte eher, als dass sie sprach. »Deshalb musste ich nachhelfen.«
Victor massierte seine Schläfen. »Ich habe diesen Stress langsam satt.«
»Wem sagst du das?« Sie stimmte in sein Seufzen mit ein.
Als sie sich in Schweigen hüllte und die Fahrt für einige Sekunden wie selbstverständlich weiterging, rüttelte Victor am Gitter. »Dreh sofort um!«
Jolie schielte über ihre Schulter. »Du kannst dir die Bettelei sparen.«
Vic verschränkte die Arme und sank seufzend in sich zusammen. Eine ähnliche Diskussion hatte er mit Gale geführt. Ich dreh nicht um. Wieso hörte niemand darauf, wenn er um etwas bat? Das Einzige, was ihn davon abhielt, durchzudrehen, war die Tatsache, dass Gale mit seinem Vater zusammen war. Er war wenigstens nicht alleine. So wie ich. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte er Jolies Hinterkopf an. Gedanklich befeuerte er sie mit Beleidigungen, dafür, dass sie ihn mit irgendeinem Nebel betäubt hat. »War das Zeug giftig?«
Sie lachte leise, dann schüttelte sie den Kopf. »Das Zeug war Magie.«
»Aha.« Sein Fokus schweifte aus dem Fenster. Sie durchfuhren irgendeine Einöde, kilometerweit ließ sich kein Anzeichen von Zivilisation erahnen. Probeweise rüttelte er an der Tür, aber sie war verschlossen. »Ist die Magie schädlich?« Hoffentlich macht Gale sich keine Sorgen.
»Für dich weniger, als für mich.« Ihre Lippen wurden dünn.
Victors Augen verloren sich in den Weiten der Steppe. Ob sie einen Umweg fuhr, damit man ihrer Spur nicht folgen konnte? »Inwiefern schadet dir die Magie?«
Die Antwort ließ auf sich warten. Zunächst kümmerte sich Jolie darum, eine Haarsträhne einzudrehen, dann antwortete sie mit rauer Stimme: »Ohne Magie kann mein Körper nicht weiterleben. Sie erhält mich in meinem derzeitigen Zustand.«
Sah sie deshalb so jung aus, obwohl sich ihre Ausstrahlung so reif anfühlte? Wie alt Jolie wohl war? Ganz egal, wie lange sie schon lebte, die grauenhaften Opfer, die ihr Dasein forderte, waren es einfach nicht wert. »Der Tod wartet auf jeden von uns, es ist feige, dass du über Leichen gehst, nur um ihm zu entrinnen.«
»Ich tue das nicht für mich.« Jolie rümpfte die Nase. »Ich bin die einzige, die sich um meinen Bruder kümmern kann.«
So kann man sich die Sache auch schönreden. Victor schüttele verständnislos den Kopf. »Du sagtest, ich soll dir helfen, ihn zu wecken.« Ihr Bruder war sicher der Jugendliche in ihrem Haus. Wer ihn wohl jetzt gerade überwachte? »Ich bin nicht der richtige für diese Aufgabe. Warum fragst du keinen Arzt?«
»Ich frage seit Jahrzehnten Ärzte.« Sie schnalzte abwehrend mit der Zunge. »Aber für sie ist sein Zustand lediglich ein unerklärliches Phänomen. Theoretisch ist sein Körper vital genug, um jeden Moment aufzuwachen.« Ihre Stimme wurde leiser, aber die Worte, die sie von sich gab, gingen überzeugend über ihre Lippen: »Ich habe gesehen, dass du anwesend bist, wenn er die Augen aufschlägt.«
DU LIEST GERADE
Mitternachtsgesang
FantasyAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...