Nach dem Krankenhausaufenthalt lebte Victor bei Lucy. Dort war er offiziell gemeldet, solange sich sein Vater im Gefängnis befand. Obwohl die Anwälte ihre Klage zurückgezogen hatten, musste noch Bürokratisches erledigt werden, was ein paar Tage in Anspruch nahm. Diese Zeit investierten Remus' Anwälte in die Schadensbehebung rund um den Ruf des Konzerns.
Lucy hat Victor ihr Schlafzimmer zur Verfügung gestellt und sich selbst im Wohnzimmer einquartiert, obwohl Vic darauf bestanden hatte, ihr nicht zur Last fallen zu wollen. »Du musst dich weiterhin erholen und dafür brauchst du ein Bett«, hatte sie gesagt und keine weitere Diskussion zugelassen.
Während Victor ihre Gastfreundschaft widerwillig akzeptierte, nutzte er seine neugewonnene Freiheit, um Malibu zu erforschen. Endlich brauchte er dafür keine Genehmigung mehr. Er durfte sich so ungehemmt durch die Nachbarschaft bewegen, wie es sich für einen Siebzehnjährigen gehörte. Weil es Lucy jedoch nicht ganz behagte, ihn in seinem Zustand alleine rausgehen zu lassen, wurde er oft von Gale begleitet und das war ein Kompromiss, der beiden gefiel.
»Wie sieht es aus?« Gale hielt Victors Hand, während sie am Strand spazierten und die ersten Strahlen der Abendsonne auf ihre Gemüter scheinen ließen. Das gelbliche Licht reflektierte auf der Meeresoberfläche und ließ die brandenden Wellen glitzern. In Gales kastanienbraunen Haarsträhnen brachte es goldene Nuancen zum Vorschein. »Wann darf dein Dad nach Hause?«
Victor legte den Kopf in den Nacken und ließ eine warme Brise um seine Nase wehen. In der Ferne kreischten Möwen. Er spürte den lauwarmen Sand zwischen seinen Zehen und kostete das Gefühl aus, wenn sie einsanken und er es auch in den Spitzen wahrnahm. Für diesen Strandspaziergang hat er seine Schuhe ausgezogen, die hingen an seinem Rucksack und baumelten im Takt seiner Schritte gegen seine Kniekehlen. Einer der Physiotherapeuten im Krankenhaus hat ihm empfohlen, regelmäßig barfuß zu laufen, damit seine Zehen durchblutet würden, und offensichtlich half das.
»Nächste Woche.« Lächelnd blickte Victor zu Seite. Gale hatte zwar nach seinem Vater gefragt, aber er hat eigentlich wissen wollen, wann Vic aus seiner Übergangsphase befreit wäre. Sobald Remus nicht mehr überwacht wurde, würde Victors Verantwortung nicht mehr in Lucys Händen liegen und er hätte die Möglichkeit, endlich zu Gales Familie zu ziehen.
»Nächste Woche!« Gale lachte und drückte Victors Hand. »Da müssen wir Mum drauf vorbereiten.«
Vics Magen zog sich zusammen. Gales Mutter war eine fürsorgliche Person, aber sie schien dem menschlichen Freund ihres Sohnes nicht vollends zu trauen. Immer wieder stellte sie ihm Fragen, die er nicht beantworten konnte. Oder wollte. Oder durfte. Erst vor kurzem hat sie ihm vorgeworfen, dass Gale zu seiner Zeit in der Villa zu wenig essen bekommen hat, und der Satz wallte immer wieder vorwurfsvoll in Victors Erinnerung auf. »Sie ist nicht begeistert davon, dass ich einziehen will, oder?«
»Doch. Es ist nur ...« Gales Stimme verebbte in einem Seufzen. »Irgendwie steht sie sich selbst im Weg. Sie hat keine guten Erfahrungen mit Menschen gemacht.« Er winkte ab und seine Mimik hellte sich auf. »Ich nehme dich heute einfach mit zum Abendessen, dann reden wir noch einmal mit ihr darüber.«
Ob das eine gute Idee war? Es war die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, wenn Victor unter einem friedlichen Stern mit Gale zusammen bleiben wollte. Er erwiderte den Vorschlag mit einem Lächeln. Sai Naichingēru, oder Naichingēru Sai, wie sie sich traditionell selbst nannte, war im Grunde eine freundliche Person. Wenn er ihr entgegenkam, würde Victor sich den Platz in Gales Zuhause sicher verdienen.
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Gales Familie besaß ein Haus in der Nähe des Nationalparks. Zu Fuß gelangte man in zwanzig Minuten dorthin, aber wenn man flog, brauchte man nur fünf. Letzteres erzählte Oscar an diesem Abend zum zwanzigsten Mal. Zumindest in Victors Beisein. Gale schwor, dass er diese Geschichte schon fünf Milliarden Mal gehört hat. Mindestens.
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Mitternachtsgesang
FantasíaAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...