»Du hast eine interessante Zimmereinrichtung.«
Dr. Sutherland saß neben Victors Bett, mit seinem Tablet auf dem Schoß und den Augen überall, nur nicht bei seinem Patienten. Es war bereits Mittag, Dr. Adams hatte vorbeigeschaut und noch einmal Victors Vitalwerte überprüft. Es ging ihm besser, aber er hat an diesem Tag vorsichtshalber auf sein Müsli verzichtet und kämpfte gegen das aufwallende Hungergefühl an. So gut er konnte, ignorierte Vic den Therapeuten, denn er wollte nicht unbewusst einer Gehirnwäsche unterzogen werden.
»Interessierst du dich für Pflanzen?« Dr. Sutherland streckte seine Hand dem Baum entgegen. Einige Blätter hingen schlaff herunter. »Oder ist das einfach nur Deko für dich?«
Vic zuckte mit den Schultern. Unter der Bettdecke knetete er seine Hände, in der Hoffnung, so das Gefühl in den Fingerspitzen zurückzuerlangen. Sein Blick verharrte bei der Kommode, dort, wo der goldene Käfig gestanden hatte. Sein Vater hat Gale wieder mitgenommen. Eigentlich hat Victor gewollt, dass er aus dem Fenster fliegt und sich in Sicherheit bringt, aber darauf hat sich sein Freund nicht eingelassen. Er wollte so nahe wie möglich bei Victor bleiben und ihn nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen.
»Hast du Angst, dass du noch einmal solch einen Anfall erleidest?«
Victor lugte zu der Uhr, die über seinem Schreibtisch hing und seufzte. Die Sitzung war für zwei Stunden angesetzt und es war gerade eine halbe Stunde um. »Sie wurden ursprünglich eingestellt, um meine Homosexualität zu heilen.« Er rümpfte die Nase. »Ich kann Ihnen nicht trauen, es tut mir leid.«
Dr. Sutherland brummte unzufrieden. Er tippte auf seinem Tablet und fuhr sich durch das schüttere Haar. »Jetzt bin ich hier, um dein Trauma aufzuarbeiten. Ich habe einen Termin verschoben, weil dein Vater sagte, es sei dringend.«
Victor seufzte. Abgesehen davon, dass er keine Art von Trauma an diesem Ort verarbeiten könnte, wollte er sein Herz nicht diesem Therapeuten ausschütten. »Ich möchte nach draußen gehen.«
»Das geht heute nicht.« Dr. Sutherland senkte das Tablet. »Du musst im Bett bleiben.«
Das war Victors neuer Lieblingssatz. Du musst im Bett bleiben. Mittlerweile hat er ihn aus fast jedem Mund in diesem Haus mindestens einmal gehört. Candy und Dahlia sind vorbeigekommen, um ihm einen Ballon und Blumen zu bringen. Zum Abschied haben sie ihm die Wichtigkeit der Bettruhe nahegelegt. Auf seinem Schreibtisch lagen neben einigen Arbeitsmaterialien von Dr. Adams weitere Geschenke: Karten, Pralinen und Blumen. Cherry hat ihm ein Stofftier gebracht, eine Nachtigall die zwitschern konnte, wenn man ihren Bauch drückte. Der unechte Vogel war so dick und plüschig, dass Gale sich sicher darüber aufregen würde, wie man seine elegante Spezies so unrealistisch darstellen konnte.
»Deine Mutter hatte einen Schlaganfall, nicht wahr?« Der Therapeut lehnte sich vor, um in Victors Sichtfeld aufzutauchen. »Bringst du die beiden Ereignisse in Zusammenhang? Belastet dich das?«
Nein, ich bin voll entspannt und freue mich schon darauf, vielleicht nie wieder meine Finger oder Zehen spüren zu können. Vic seufzte. »Sie hätten Ihren Termin nicht absagen müssen.« Er erwiderte den Blick des alten Mannes und zwang sich ein Lächeln auf. »Ich komme schon damit zurecht. Kümmern Sie sich um Ihre anderen Patienten.«
Dr. Sutherland knirschte mit den Zähnen. Für einen Moment schwieg er, aber seine Finger tippten über das Tablet. »Solange dein Vater die Termine vereinbart, sehen wir uns wöchentlich. Wenn du unzufrieden bist, dann musst du das mit ihm klären.«
»In Ordnung.« Victor fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Nur mit den unteren Fingergliedern spürte er, dass der Ansatz sich fettig anfühlte. Eine Dusche wäre gut, aber wie sollte er das bewerkstelligen? Sein Blick flüchtete zum Fenster. Die Sonne schien. Draußen war es sicher angenehm warm. Er lag halb verschwitzt in seinem Schlafanzug, den er seit zwei Tagen ununterbrochen trug in seinem muffigen Zimmer. Plötzlich wirkte jede Kleinigkeit verlockend. Durch die Flure laufen, im botanischen Garten sitzen oder im Esszimmer frühstücken und das Treiben in der Villa beobachten. »Schicken Sie meinen Vater her?«
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Mitternachtsgesang
FantasyAls seine Mutter stirbt, muss Victor zu seinem Vater nach Amerika ziehen. In der Villa des weltbekannten Aufreißer-Milliardärs wird der Teenager mit Homophobie und Anzüglichkeiten konfrontiert. Weil er mit diesem Lebensstil nichts anfangen kann, ve...