Kapitel 45: Wie man Wogen glättet

57 7 2
                                    

Victor lief gemeinsam mit Lucy und Gale durch das Staatsgefängnis. Sie haben einen Besuchstermin mit Remus erwirken können, aber der musste innerhalb dieses Gebäudes stattfinden. Die Pausierung des Prozesses verhinderte, dass Remus entlassen wurde. Erst wenn Victor die Anklage endgültig zurückzog, wäre das möglich. Hätte er das gewusst, dann hätte er dem Vorschlag der Anwälte nicht zugestimmt. Er wollte auf friedliche Weise mit seinem Vater reden. An diesem Ort würde ihr Gespräch nicht auf Augenhöhe stattfinden.

Die Luft in den schmucklosen Fluren knisterte. Victor spürte die erdrückende Atmosphäre dieses Ortes auf seiner Haut. Es roch nach nassem Beton und irgendwie nach Gummi. Sämtliche Fenster befanden sich an der Decke, von dort erreichte nur wenig Licht den Boden. Dafür nahm man umso intensiver das Trommeln der Regentropfen wahr. Sie klatschten gegen das Glas, so laut, als wäre jeder Aufprall eine kleine Explosion.

»Warum so viele?« Der Wärter, der sie vom Besuchsraum trennte, musterte sie der Reihe nach. »Es darf nur einer rein.«

»Davon hat der Herr an der Pforte nichts gesagt.« Lucy klang verärgert. Sie verschränkte die Arme und richtete sich vor dem Mann zur vollen Größe auf. »Sonst hätte er uns nicht reingelassen, oder?«

»Er hat uns wegen des Regens rein gelassen«, warf Victor beschwichtigend ein und widmete dem Wärter einen entschuldigenden Blick. »Er meinte, dass wir bis hierhin zusammen gehen dürfen, uns dann aber jemand aufhält.«

Der Wärter nickte beipflichtend und Lucy senkte die Schultern. »Oh.«

Gale klopfte ihr gegen den Rücken und grinste. »Ich habe auch nicht richtig zugehört.«

Victor nahm einen tiefen Atemzug der feuchten Betonluft und richtete den Blick durch die Glastür, über welche der Mann vor ihnen wachte. Nur er besaß den Zugang zum Schalter, der ihm Einlass gewährte. »Können wir ungestört reden?« Sein Blick schwenkte zu dem Wärter. »Es kommen sicher private Themen auf.«

Die Lippen des Mannes wurden schmal, aber er nickte. »Es wird jemand in der Nähe sein, der eingreift, falls etwas passiert, aber niemand wird euch belauschen.« Er rümpfte angedeutet die Nase. »Immerhin dürfte es nicht in deinem Interesse sein, mit ihm einen Ausbruch zu planen, oder?« Er lachte kurz auf. »Opfer kommen selten her, um ihre Peiniger zu besuchen.«

Opfer und Peiniger klang in Victors Ohren übertrieben, aber er nickte, um keinen Streit mit dem Wärter zu provozieren. Er umarmte Lucy und küsste Gale, bevor er sie hinter sich ließ und durch die summende Tür schritt.

Ein anderer Wärter nahm ihn in Empfang und führte ihn tiefer in das Gebäude. Das Hallen ihrer Schritte wurde durch das stetige Trommeln des Regens begleitet. Sie bogen ein paar Mal ab, bis sie schließlich bei einem Gebäudetrakt ankamen, der an eine Cafeteria erinnerte. Etwa ein Dutzend Tische standen in einer Halle verteilt, mit links und rechts ein paar Bänken davor. Vereinzelt saßen Menschen darauf, einige mit orangefarbenen Overalls, andere mit Straßenkleidung. Wenn das der Besuchsraum war, dann bot er nicht die erwünschte Privatsphäre.

»Da drüben«, sagte der Wärter und navigierte Victor in die entgegengesetzte Richtung, auf eine Wand zu. Dort reihten sich Türen aneinander, dicht an dicht. Was auch immer dahinter für Räume waren, groß konnten sie nicht sein. Private Besuchsräume vielleicht? Vic schluckte die Nervosität und versuchte, das aufgeregte Klopfen seines Herzens zu ignorieren. Kurz umschwirrte Schwindel seine Sinne, aber er hatte seine Tabletten im Auto gelassen, um Diskussionen zu vermeiden, also musste es so gehen.

Der Wärter deutete auf eine ausgeschaltete rote Lampe neben der Tür, vor welcher sie sich befanden. »Wenn du Hilfe brauchst, drück den Knopf auf deiner Seite des Tisches, dann kommt jemand.«

MitternachtsgesangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt