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𝐿𝑒𝑎𝑛𝑑𝑟𝑜

Das alte Schulgebäude in der Bronx, in dem Katelyn und ich uns kennen und lieben gelernt haben, ist schon seit Jahren baufällig. Es riecht modrig. An den noch ver bliebenen Scheiben hängen Spinnweben. Der Boden ist übersät mit Vogelkot. Die Farbe an den Wänden ist längst abgeplatzt. Kaum eine Bodenfliese ist noch intakt. Die einst rotgestri chenen Holzgeländer erinnern mich an eines der schönsten Ereignisse in meinem Leben.

Katelyn stand gegen eines der Geländer gelehnt, als sie mir ihre Liebe gestanden hat. Sie hat mich an sich gezogen und mir ins Ohr ge flüstert, was sie für mich empfindet. Mit einem verhaltenen Kuss auf die Wange hat sie unsere gemeinsame Zukunft besiegelt. Das ist es, um das sich nun alles dreht. Wäre ich nicht genauso verrückt nach ihr gewesen, würden wir jetzt nicht hier stehen. Ich wäre nicht dazu verdammt, das zu tun, was mir mehr wider strebt als alles andere in meinem Leben.

Als ich Katelyn vor etwa einer Stunde eine Nachricht geschrieben habe, dass ich mich hier mit ihr treffen möchte, und sie dem sofort zugestimmt hat, musste ich mich übergeben. Egal, wie viel ich in den letzten Jahren durch gemacht habe, was aus mir geworden ist, die jetzige Situation lässt mich alles andere als kalt. Sobald man einmal gemordet hat, wird es irgendwann zur Routine. Doch das, was ich tun muss, wird mich brechen.

Als ich Schritte hinter mir höre, erstarre ich. Sie ist da. Langsam drehe ich mich zu ihr um. In ihrem Blick liegen so viele Emotionen, dass es mir kaum möglich ist, alle herauszu filtern. Einerseits wirkt sie mutig, dann wieder ängstlich, hoffnungsvoll und gleichzeitig mut los. In ihr tobt ein Gewitter aus den ver schiedensten Stimmungen. Mir geht es nicht anders.

Katelyn bleibt in einiger Entfernung zu mir stehen. "Warum sollte ich herkommen?" „Ich ..." Mir versagt die Stimme. Ich kann es nicht aussprechen.

"Selbst jetzt bist du nicht Mann genug, um es mir ins Gesicht zu sagen." Katelyn verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf. "Bevor du das tust, was du vorhast, will ich Antworten von dir. Das bist du mir schuldig." Die Worte kommen ihr so kühl und resig niert über die Lippen, dass mir kurz der Atem stockt. Sie weiß, dass ich sie töten will, und ist trotzdem gekommen. Ich spitze die Ohren, sehe mich in alle Richtungen um. "Ich bin allein gekommen. Das ist keine Falle", sagt sie. "Warum bist du hier, wenn du weißt, dass
ich..." "Du mich töten wirst", fällt sie mir ins Wort. "Sag es!"

Ihre Eiseskälte und ihr unerschütterlicher Mut treiben mir zwar den Schweiß auf die Stirn, doch das ist es nicht, was mich so be wegt. Es sind ihre Augen. Sie sind dunkel und frei von allen Emotionen. Jegliches Gefühl, das ich jemals in ihr erweckt habe, ist weg. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass sie es schafft, sich davon freizumachen. Sie ist mir in dieser Beziehung voraus. Ich muss mich endlich zusammenreißen. "Du bist es. Stimmt's?" Katelyn nähert sich mir.

"Ich bin der König. Der, den du schon so lange suchst", antworte ich kühl.

Das ist der Augenblick, in dem ich erkenne, wer ich wirklich bin, und dass auch Katelyn das niemals mehr hätte ändern können. Liebe ist nicht für jedes Problem das Zauberwort.

"Was ist mit dir passiert?", will sie wissen.
"Ich muss dir nicht viel erzählen. Du weißt selbst, wie man in so was hineinrutscht."

Katelyn schüttelt ungläubig den Kopf. "Nein, erzähl mir nicht so einen Mist. Von einem Kleinkriminellen zu einem der meistgesuchten Männer New Yorks zu werden, dazu gehört mehr, als sich nur aus Versehen den falschen Leuten anzuschließen. Du bist kein Kleinkri mineller, du bist DER Clanchef. Du bist das
Phantom, und du bist ..." Sie hält kurz inne, ehe sie sich mir bis auf nur einen Schritt nähert. "....ein Mörder." Ich nicke, verziehe dabei keine Miene. „Dasalles war ich. Aber vor ein..." Sie hebt die Hand. "Nein, stopp." Sie baut sich vor mir auf. "Du warst es doch, der Maria Jimenez umgebracht hat. Oder zumindest hast du jemanden damit beauftragt. Also er zahl mir nichts von du warst. Du bist, Leandro. Du bist." In ihren Augen erkenne ich, wie sehr sie sich wünscht, dass ich das verneine. "Ich habe es getan."

Sie nimmt meine Hand, streicht mit den Fingerspitzen über meine Handinnenfläche und seufzt schmerzerfüllt. "Diese Hände haben mir so viel gegeben, und jetzt..." Sie blickt zu mir auf. "Jetzt wirst du mich damit töten."

"Warum hast du nichts unternommen, als dir klar war, wer ich bin?" Ich sehe sie durch dringend an, versuche, ihr die Antwort zu ent locken, ehe sie sie ausspricht.

Katelyn geht wieder ein wenig auf Abstand. "Versuch nicht, mich da mit reinzuziehen." "Das habe ich nicht vor", lüge ich. Denn nichts anderes hatte ich vor. Ich wollte sie auf meine Seite ziehen, wollte, dass sie mich wie der so sehr liebt, wie sie es einst getan hat, und dass sie sich am Ende für mich entscheidet. Freiwillig. "Ich sehe dir an, dass du lügst. Du weißt schon lange, was ich tue und dass ich hinter dir her bin. Wie hast du dir das zwischen uns vorgestellt?" Sie klingt verletzt. "Du hast dabei nicht eine Sekunde an mich gedacht. Das ist es, was mich am meisten an der ganzen Sache schockiert." Sie hebt den Zeigefinger. "Nicht ein einziges Mal, Leandro. Hast du wirklich gedacht, dass ich das mitmachen würde?" "Ja, das habe ich", gebe ich ohne zu zögern zu.

Doch selbst das scheint sie nicht zu berühren. Katelyns eiskalter, nichtssagender Blick lässt mich letztendlich das tun, wozu ich hier hergekommen bin. Ich greife mir an den Rücken, ziehe meine Glock aus dem Hosenbund und halte sie ihr an die Stirn. Katelyn zuckt nicht einmal mit der Wimper. "So feige bist du also. Das hätte ich nicht gedacht", murmelt sie. Es wirkt beinahe so, als möchte sie erlöst werden.

"Und ich hätte gedacht, dass unsere Liebe alles aushält", zische ich ruppig. "Wie man sieht, tut sie das nicht", entgegnet sie.

Langsam, aber sicher scheint es so, als würde Katelyns Mauer, die sie um sich herum errichtet haben muss, einbrechen. Sie verliert ihr Pokerface. Ihre Augen trüben sich plötzlich. Sie drückt ihre Stirn gegen den Lauf der Waffe. Ihr Blick ruht auf mir. "Liebe darf nie mals wehtun", flüstert sie traurig.

"Habe ich dir jemals wehgetan?", frage ich
ruhig. Ihr Kopf bleibt starr, nur ihre Augen bewegen sich in Richtung Waffenlauf. Sie muss nichts sagen. Ich weiß, was sie meint.

"Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn ich es nicht tue..." Ich spreche nicht weiter, da es mir die Kehle zuschnürt. Noch nie im Leben hatte ich solche Skrupel, einem ande ren Menschen Gewalt anzutun.

Katelyns kühler Blick verharrt weiterhin auf mir. "Es sind die Taten, die einen Menschen auszeichnen. Die dich auszeichnen. Also, was für ein Mensch willst du sein?" "Das ist jetzt nicht mehr wichtig", antworte ich ablehnend.

Ich wollte ihr am Anfang unseres Gesprächs erklären, dass ich mich ändern wollte, bereits bevor sie wieder in New York aufgetaucht ist, dass das Wish meine einzige legale Einnahmequelle sein sollte. Aber das ist nun egal. Sie würde mir ohnehin nicht glauben.

"Dreh dich um", weise ich sie eisig an. Katelyn entweicht ein Lachen. "Nein, vergiss es. Du musst mir schon in die Augen sehen, wenn du mich umbringen willst." Und dann geschieht das, was ich nicht mehr für möglich gehalten hätte... Katelyns Augen werden feucht. Ihr rollt eine Träne über die Wange.

"Ich habe dich immer mehr geliebt als mein eigenes Leben, und ich hätte alles für dich getan... aber indem du mir eine Waffe an den Kopf hältst, hast du eine Grenze überschrit ten, die ..."

Ihre Worte verschwimmen in meinem Gehörgang. Katelyn hat recht. Mein Waffenarm wird bleischwer. Langsam lasse ich ihn sinken. Ich kann das nicht.

"Geh", fordere ich sie zähneknirschend auf. Sie rührt sich nicht. Ihr Blick ist starr. Sie
lässt keine Regung zu. "Nun geh endlich!", schreie ich. Katelyn entfernt sich rückwärtsgehend von mir, wobei sie mich keine Sekunde aus den Augen lässt.

"Nun mach, dass du wegkommst, ehe ich es mir anders überlege", treibe ich sie an. Ihre Lippen öffnen sich, sie schnappt nach Luft.

"Du solltest verschwinden. Weit weg. Wenn Jason dich in die Finger bekommt, kann ich für nichts garantieren, und es wird nicht lange dauern, bis er herausfindet, dass ich es nicht fertiggebracht habe." Jeder einzelne meiner Muskeln schmerzt. Kraftlos stecke ich die Waffe wieder weg.

Katelyn entfernt sich immer weiter von mir. In wenigen Augenblicken werde ich sie für im mer verloren haben. Mit einem letzten Blick, der mir mehr sagt als tausend Worte, ver schwindet sie schließlich aus meinem Blick feld.

Mein Schicksal ist damit besiegelt. Der König des Untergrunds hat sich soeben selbst die Kugel gegeben. Ich sollte Schmerz empfinden, doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich fühle nichts.

| NYC King - Du wirst mich Lieben |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt