•47

206 9 0
                                    

𝐾𝑎𝑡𝑒𝑙𝑦𝑛

Ich renne. Durch meinen Kopf jagen tausende Bilder. Unsere gemeinsame Vergangenheit und das eben Geschehene vermischen sich zu einem zähflüssigen Brei, der meine Lunge verstopft. Das Atmen fällt mir schwer. In meinem Rücken sticht es. Es fühlt sich an, als würde auf meinem Brustkorb ein tonnenschweres Gewicht liegen. Was soll ich jetzt tun?

Ich zücke mein Handy, benutze es dann aber doch nicht. Zuerst brauche ich einen sicheren Ort, dann kann ich mir überlegen, wie es weitergehen soll. Bin ich wirklich sicher vor ihm, oder wird er mir doch noch folgen und mich umbringen? Ich muss hier weg. So schnell wie möglich. In wenigen Augenblicken erreiche ich die Straße, kann mir ein Taxi rufen, von hier verschwinden und dann ... Meine Gedanken reißen abrupt ab, als mich jemand, kurz bevor ich das alte Schulgelände verlassen kann, packt und in die Mangel nimmt.

Ein muskulöser Arm legt sich um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab. Es ist nicht Leandro, das bemerke ich sofort. Mir fällt das Handy aus der Hand.

"Er konnte es nicht. Ich wusste es", zischt eine mir bekannte Stimme.
Jason! Ich versuche, einen Laut hervorzu bringen, will mich bemerkbar machen. Leandro sollte doch noch in der Nähe sein. Doch ich schaffe es nicht. Jason drückt immer fester zu. "Wenn du dich nicht wehrst, geht es ganz schnell", verspricht er.

Doch ich werde nicht kampflos aufgeben. Ich sammele all meine verbliebenen Kräfte und trete um mich. Erfolglos. Schwindel über kommt mich. Mir fehlt der Sauerstoff. Meine Lider klappen zu. Meine Körperkontrolle ist dahin. Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten. Das letzte Geräusch, das ich höre, ist eine Autotür, dann wird alles schwarz.

Als ich wieder zu mir komme, weiß ich im ersten Moment nicht, ob ich noch lebe oder bereits auf dem Weg in den Himmel bin. Wie fühlt es sich an, tot zu sein? Atmen kann ich noch. Mein Körper schmerzt kaum. Nur an meinem Hals spüre ich ein leichtes Ziehen. Ich versuche, meine Arme und Beine zu bewegen, doch es gelingt mir nicht. In diesem Moment wird mir klar, dass ich noch lebe.

Mit schnellschlagendem Herzen öffne ich die Augen und sehe mich um. Ich sitze in einer Halle, festgebunden an einen Holzstuhl. Nur das flackernde Oberlicht spendet ein wenig Licht. Wie spät es wohl mittlerweile ist? Wie lange war ich bewusstlos?

Jason hat mich am Leben gelassen. Aber warum? Bestimmt war es ihm zu gefährlich, mich auf offener Straße umzubringen. Des halb hat er mich hierhergebracht. Es muss seine Halle sein. Oder gar die des Clans. Ich sehe mich erneut um und entdecke eine Tür. Unter ihr fällt ein seichter Lichtstrahl hindurch. Es ist also noch hell draußen. Ich spitze die Ohren, höre aber nichts.

Kann es sein, dass er mich ganz allein hierge lassen hat? Das kann ich mir kaum vorstellen. Dennoch versuche ich, mich von den Fesseln zu befreien. Erfolglos.

Es ist eine beängstigende Stille, die diesen Ort erfüllt. Ich will mir nicht ausmalen, wie viele Menschen hier womöglich schon ums Leben gekommen sind. Das ist die Zentrale des Bösen, und ich sitze hier fest.

Erst jetzt schaffe ich es, über Leandro nachzudenken. Es hat mich nicht schockiert, die Wahrheit zu erfahren. Das Einzige, was ich nicht erwartet hätte, ist, dass er tatsächlich die Waffe gegen mich erheben würde. Ob er je mals vorhatte, abzudrücken, weiß ich nicht. Aber allein die Handlung lässt mir eiskalte Schauer über den Rücken laufen.

Er liebt mich, das steht außer Frage. Nur deshalb atme ich noch. Doch das entschuldigt nichts. Leandro wollte mir erklären, wieso es so weit gekommen ist, aber ich wollte es nicht hören. Es ist auch unwichtig. Wichtig ist nur, dass es so ist. Er ist ein Schwerverbrecher, Mörder und Drogendealer, und ich bin die, die nach ihm sucht. Oder besser gesagt gesucht hat.

Ich habe nicht nur einen riesigen Fehler begangen, sondern ich habe alles verraten, an das ich jemals geglaubt habe. Und wofür? Für ihn. Das ist die bittere, eiskalte und unge schönte Wahrheit. Leandro ist mein Schwachpunkt. Das war er schon immer, und er wird es auch bis ans Ende meines Lebens bleiben. Er besitzt mich, und ich habe nichts, was ich ihm entgegensetzen könnte. Ich bin ihm verfallen. Das Schlimmste aber ist, dass ich mich dafür nicht einmal schäme. Mein Handeln, so unverständlich es auch wirken mag, war die einzig logische Konsequenz aus dem, was unsere Verbindung ausmacht.

Da Jason mich aber sicher nicht laufen lassen wird, brauche ich keinen Gedanken mehr daran verschwenden, was passiert wäre, wäre ich davongekommen.

"Da ist sie ja wieder", erklingt die Stimme
meines Mörders hinter mir. Ich bleibe zu meiner eigenen Überraschung ruhig, denn ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Und vielleicht ist es auch besser so. Ich habe es nicht anders verdient.

"Keine Angst zeigen. Das hast du wohl beim
FBI gelernt", murmelt Jason zynisch, als er
sich vor mir aufbaut.

Ich antworte ihm nicht. "Ah, ich verstehe. Du willst das alles schnell hinter dich bringen", vermutet er. Er zückt eine Waffe, kniet sich vor mich und sucht meinen Blick. "Ehe ich dich erlöse, will ich aber noch eins von dir wissen: Wie viel weiß das FBI über uns?" Das kann er vergessen. Niemals werde ich ihm gegenüber etwas über den Ermittlungs stand erzählen.

Ich presse die Lippen aufeinander. In meinem Mund sammelt sich Spucke, die ich ihm am liebsten ins Gesicht rotzen würde, aber ich will mich nicht auf sein Niveau begeben. Es würde ja doch nichts an der Situation ändern.

"Gut, wenn du nichts sagen willst, bitte, dann beenden wir das jetzt." Er hebt die Waffe, mit der anderen Hand reißt er mir den Kiefer auseinander und schiebt mir dann den Lauf zwischen die Zähne.

Entsetzt reiße ich die Augen auf.

"Hast du etwa gedacht, dass mich deine
Sturheit juckt? Wir haben uns bisher immerzu helfen gewusst. Auch ohne dich."
Nun schlägt mein Herz doch ein wenig schneller. Ich versuche, mich wieder zu beruhigen, atme flach und ruhig.

Als er die Glock entsichert, schließe ich die Augen. Wie viele Sekunden habe ich noch? Wird es schmerzen? Wie sehr wird meine Familie unter meinem Verschwinden leiden? Ich bin mir sicher, dass er mich so gut verscharrt, dass man meine Leiche niemals finden wird. Und was wird Leandro mit ihm anstellen, wenn er bemerkt, was sein Bruder getan hat? "Leg sofort die Waffe weg!"

Ist das real oder träume ich? Ich öffne die Lider, doch alles, was ich sehe, ist Jasons verzerrtes Gesicht.

,"Nein, das werde ich nicht tun", antwortet Jason so unverhofft, dass mein Herz einen Salto schlägt.

Ich habe es mir doch nicht eingebildet. Leandro ist hier. "Doch, das wirst dul", entgegnet er streng, aber ruhig. Ich höre ein leises Klicken. Er hat seine Waffe entsichert. Die er wohl, so vermute ich
es zumindest, auf seinen Bruder richtet. Jason scheint davon wenig beeindruckt. Er stiert mich mit einem todbringenden Blick an. "Ich werde jetzt das tun, wozu du nicht fähig warst, Bruder!"

"Du scheinst immer noch nicht zu wissen,
wozu ich fähig bin", droht Leandro ihm und tritt schließlich in mein Blickfeld.

Das Grün in seinen Augen wirkt unruhig, aufgewühlt, und ich meine sogar, einen kleinen Funken Angst darin sehen zu können.

"Du bist noch lange nicht so weit, dass du mich ersetzen könntest. Du hast es noch nicht einmal geschafft, ihr Handy mitzunehmen. Oder was denkst du, woher ich weiß, dass du sie haben musst? Ich musste nur eins uns eins zusammenzählen, als ich es auf dem Schulgelände gefunden habe."

Jason sieht über die Schulter zu seinem Bruder. "Ich werde sie töten, das kannst du nicht verhindern."

"Das vielleicht nicht, aber dein Tod geht dann auf mein Konto." In Leandros Stimme schwingt ein mir bisher noch unbekannter Ton mit.

Das scheint Wirkung zu zeigen. Jason wendet sich wieder mir zu. In seinen Augen kann ich erkennen, dass er verstanden hat, was sein Bruder ihm damit sagen will. Den noch nimmt er die Waffe nicht aus meinem Mund.

Du würdest mich töten. Für sie." Jason
presst die Lippen aufeinander. "Ich würde jeden Menschen auf dieser Erde töten", berichtigt Leandro ihn. "Für sie."

"Sogar dein eigen Fleisch und Blut?" "Sogar meinen eigenen Bruder."
Das ist der letzte Satz, den ich vernehme, dann versinkt meine Welt erneut im Dunkeln.

| NYC King - Du wirst mich Lieben |Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt