61. „'Tschii."

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Wölkchen sah in eine der Höhlen hinein. Eine Gruppe von Menschen machte sich fertig. Sie kletterten in stabile Netze, die mit lauter Dorngengestrüpp umgeben waren. Nur der Korb auf dem Rücken für das Holz war frei. An den Schultern wiesen die Netze größere Löcher auf. Der Adler hatte bei einem Flug erkannt, dass sie durch diese ihre Arme steckten, um das Holz aufzusammeln. Als die Gruppe aufbrach und den schmalen Weg durch die Klippen ansteuerte, öffnete Wölkchen seine Flügel und schwang sich in die Lüfte. Die meisten Menschen hier wohnten in den Höhlen. Es gab aber auch welche, die – wie Toshis Familie – in einer kleinen Hütte direkt vor den Höhlen lebte. Wenn sie kein Feuer machten, waren sie vom Wasser aus unsichtbar. Denn die Hütten waren mit Steinen getarnt. Optisch hoben sie sich dadurch nicht von der Felswand ab.

Zwei Tage lang hatte Wölkchen keinen der Menschen gesehen. Das Monsterschiff war gekommen. Erst als es wieder am Horizont verschwunden war und die Laute der Titanen nicht mehr zu hören waren, tauchten die Menschen wieder auf. Heute schienen sie es wohl für sicher zu halten, ihr Tal zu verlassen, um weiteres Brennholz für den Winter zu sammeln.

In einem der kleinen Boote am Strand entdeckte der Adler den kleinen Jungen. Seine Schwester sammelte angespültes Treibholz ein. Interessiert blickte der Vogel auf ihre Füße. Die Menschen hier liefen nie barfuß oder in Schuhen über den Sandstrand. Sie hatten sich Vogelfüße aus Holz geschnitzt. Diese banden sie immer unter ihre Schuhe bevor sie den feinen Sand betraten.

„Toshi, jetzt hilf endlich mit", rief Yoko zu ihnen herüber.

Doch ihr Bruder schmollte. „Sie sind aufgebrochen. Zum Holzholen, oder?", fragte er Wölkchen. „Nie darf ich mit, Vogel", beschwerte sich Toshi. „Weil ich angeblich zu jung bin. Großvater war in meinem Alter schon allein auf dem Meer." Der Junge warf einen Stein ins Wasser. Wölkchen sah zu, wie dieser über das Wasser hüpfte. Zweimal, dreimal, viermal. Dann ging er unter. „Weißt du, Vogel", begann Satoshi, „Großvater sagt, wir hätten genug Holz, wenn wir eins der Monsterschiffe auseinandernehmen würden." Der Junge stand auf und sprang aus dem Boot. „Vielleicht mach ich das eines Tages. Und überrasche sie damit. Es gibt nämlich noch einen Weg hierher über die Steine, Vogel. Großvater hat ihn mir mal vom Wasser aus gezeigt. Der ist gefährlich. Aber wenn ich dann mit dem ganzen Holz vom Monsterschiff wiederkomme, können die mich nicht schimpfen. Und dann sehen die auch, dass ich nicht mehr zu jung bin. Und dann nehmen die mich auch mit nach draußen."

„TOSHI!", schrie seine Schwester.

„Ich komme", antwortete ihr kleiner Bruder. „Vogel, wenn du wartest, können wir später angeln gehen", rief er Wölkchen zu, während er zu seiner Schwester lief.

***

„'Tschii." Levi fuhr sich über die Nase und zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Doch der feine Sprühregen, der seit den frühen Morgenstunden herunterfiel, hatte seine Kleidung eh schon komplett durchnässt.

„OH! Du lebst ja doch noch." Hanji stand neben ihm. Während der gesamten Mauerinspektion war Levi noch wortkarger gewesen als sonst. Und seit sie vor ein paar Tagen am westlichsten Punkt der Mauer am Tor von Krolva angekommen waren, war ihr Kamerad völlig verstummt. Nur sein Blick, der war noch finsterer als sonst. Hanji folgte Levis Blick und starrte ebenfalls runter vor das Tor. Einige Titanen irrten an der Mauer entlang. Doch etwas Ungewöhnliches konnte die Soldatin nicht feststellen.

„Willst du sie töten?", fragte sie nach.

Aber Levi blieb in seiner Gedankenwelt. Als die Mauer Maria gefallen war, hatte Peters Team versucht durch dieses Tor hinter die Mauer Rose zu kommen. „Hier hat sie also gestanden. Und um ihr Leben gefleht." Levi ballte die Hände zu Fäusten. Seine Knöchel wurden weiß. Doch es war nicht der einzige Gedanke, der in seinem Kopf rumspukte. Nur lösten die anderen Gedanken in ihm keine Wut, sondern Angst aus. Seitdem er als Mauerwache eingeteilt war, kamen nach und nach einige Erinnerungen wieder hoch. Was hatte Paul damals an der Mauer wirklich gesucht? Warum hatten sich Paul und Peter in der Nacht des Unfalls heimlich aus dem Staub gemacht? „Mitten im Kampf gegen die Titanen." Nicht, dass er sie gebraucht hätte. Aber solch ein Verhalten von Soldaten des Aufklärungstrupps hatte er noch nie erlebt. Und wollten sie wirklich nur den Pfarrer zurückholen? „Oder hatten sie einen anderen Grund, um sich allen Regeln zu widersetzen und vor die Mauern zu gehen?" Levi hatte keine Antworten, zu diesen Fragen, die ihn nicht schlafen ließen. Immer lag er panisch wach, denn eins wusste er: Peters ehemaliges Team war selbst eine geschlossene Mauer. Nichts drang nach außen. „Was, wenn sie mehr wissen? Was, wenn sie irgendetwas planen?" Denn wieso hatten Erwin und Mike das Anfängertraining von Ayumi überwacht? Aus Angst sie würde ihnen eine Gehirnwäsche verpassen?

Chagara - Chaos in der Dunkelheit (Levi x OC FanFic / AttackOnTitan)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt