„Du siehst gelinde gesagt müde aus", stellte Jenny eines Abends, einige Tage später, fest und reichte mir den Teebecher mit dem Werbeaufdruck für Kekse. Man bekam jedes Mal Hunger wenn man aus der Tasse seinen Tee trank.
Ich unterdrückte, nicht zum ersten Mal seit ich nach Hause gekommen war, ein Gähnen. „Bin ich auch", murmelte ich und pustete das Dampfwölkchen von der Tasse.
„Du arbeitest zu viel. Du machst momentan täglich Überstunden."
Jenny musste es ja wissen. Wir teilten uns eine Wohnung und waren seit der Schule befreundet. Ich widersprach ihr nicht und griff stattdessen nach einem der Kekse, die sie aus dem Café mitgebracht hatte. Es war eine Kokosmakrone und die liebte ich besonders. Ich tunkte die Köstlichkeit in meinen Tee und saugte genüsslich daran.
Als ich aufsah, verzog sie leicht angewidert über meine Essgewohnheiten das Gesicht und ließ sich neben mich aufs Sofa fallen, so dass der Tee in meiner Tasse bedenklich schwappte. Es gelang mir nur mit Hilfe einer akrobatischen Übung mir den heißen Inhalt nicht über die pastellrosa Bluse zu kippen. Ich hatte es nämlich noch nicht geschafft, mich nach der Arbeit umzuziehen. Sie hatte recht. Seit dem Tag, an dem das Meeting mit den Leuten von der Dunbrook Real Estate Holding stattgefunden hatte, hatte ich nicht mehr pünktlich Feierabend gemacht.
„Mein Job ist es, Frank Jefferson den Rücken freizuhalten, wenn er sich in einer kreativen Schaffensphase befindet. Ich hüte das Telefon, beantworte alle E-Mails, halte ihm Daniel, die Kollegen und die Kunden vom Hals, mache die Abrechnungen und so weiter. Außerdem versorge ich ihn mit Essen und Unmengen Kaffee. Er möchte, dass ich länger bleibe, weil auch er länger bleibt. Ich muss da sein, falls er etwas braucht."
„Du machst Überstunden um Kaffee zu kochen? Leben wir in den 50ern?", empörte sich Jenny.
Ich zögerte eine Spur zu lange. „Ich mache ihm um 18 Uhr noch eine Thermoskanne und dann gehe ich nach Hause. Zumindest, wenn nichts anderes mehr zu tun ist. Der Auftrag von Dunbrook ist wirklich wichtig."
„Oh wow, das grenzt ja schon an Rebellion." Jenny nahm sich einen Schokoladenkeks, biss genüsslich hinein und verteilte Krümel auf ihrem bequemen Hoodie.
„Sehr witzig!" Ich tunkte die nächste Kokosmakrone in meinen Tee.
„Du bist zu gutmütig. Auch deiner Familie gegenüber. Deine Schwester behandelt dich als wärst du ihre Dienstbotin."
„Oh je, wollen wir jetzt mein ganzes verkorkstes Leben analysieren?", fragte ich müde. „Sorry, aber dafür bin ich zu k.o." Ich griff nach einem Ingwerplätzchen. Eigentlich sollte ich etwas richtiges, gesünderes essen, aber ich hatte keine Energie, mich zum Kochen aufzuraffen.
„Irgendwann müssen wir ja einmal darüber reden." Jenny konnte energisch sein und ich ahnte, dass sie nicht lockerlassen würde, ehe wir dieses Gespräch führten. Ich wusste , dass sie es gut meinte, aber niemand wurde gerne mit seinen Schwächen konfrontiert und ich bildete da keine Ausnahme.
„Sandra muss viel für ihr Studium lernen", wandte ich daher aus schwesterlicher Solidarität ein, eher weil ich mich dazu verpflichtet fühlte, weniger aus Überzeugung.
Insgeheim gab ich Jenny nämlich recht. In letzter Zeit hatte es meine Schwester ein bisschen übertrieben. Es fühlte sich an als wäre ich immer in Rufbereitschaft. Ich musste einspringen, wenn es darum ging, die Zwillinge irgendwohin zu bringen oder abzuholen. Sogar ihre Weihnachtseinkäufe hatte sie mir aufgebrummt, weil ich nach der Arbeit ja sowieso gerade in der City war. Ich half Sandra gerne wo immer ich konnte, aber so langsam wurde es zu viel und zu selbstverständlich. Außerdem wartete ich noch immer auf die 12 Pfund für den Schokoladenkuchen.
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Love Christmas - A Cinderella Story
RomanceCarolyn ist für alle da: Ihre alleinerziehende Schwester und deren Zwillinge, die pflegebedürftige Großmutter und ihren Chef, für den Überstunden nichts zählen. Für sich selbst bleibt keine Zeit. - Bis sie ihre beste Freundin zu einem vorweihnacht...