Carolyn
Heiligabend verbrachte ich im trauten Nest, das das Haus meiner Eltern seit meiner Kindheit für mich war. Granny wurde tatsächlich aus dem Krankenhaus entlassen und Lukes Hand tat ihm kaum weh. Er konnte schon wieder mit seinem Bruder Unfug machen und Legobauen klappte auch erstaunlich gut. Der Gedanke, mich hier wie in einem Kokon mit meiner Familie für die Feiertage zu verstecken, war wunderbar und es gab auch wirklich keinen Grund, sich der kalten Welt da draußen zu stellen. Es gab Unmengen Weihnachtsplätzchen und Tee. Der Weihnachtspudding war gemäß der Tradition gerührt und wartete wie der Truthahn darauf, morgen am Weihnachtstag, verspeist zu werden. Alles war gewohnt und beschaulich wie in jedem Jahr.
Wir schauten zusammen Ist das Leben nicht schön?, den alten schwarz-weiß-Klassiker, im Fernsehen an, weil es Tradition war. Dann legte ich mit den Jungs letzte Hand an der Tischdekoration an. Sandra traf sich nachmittags mit ihrem Freund, aber zum Abendessen war sie zurück und in aufgeräumter Stimmung und außergewöhnlich aufmerksam und liebenswürdig. Ihr neuer Freund schien ihr gutzutun.
Aber selbst in dem heimeligen nach Ingwer und Zimt duftenden Kokon konnte ich meine Gedanken an David nicht abschalten. Wir hatten früher am Tag kurz geschrieben, weil er sich nach Granny erkundigt hatte und ich hatte ihm geantwortet, dass sie wieder zu Hause sei. Daraufhin wünschten wir einander frohe Weihnachten, sehr neutral, sehr freundschaftlich. Kristie und unsere Unterhaltung im Krankenhaus erwähnte keiner von uns beiden. Was hätte ich auch schreiben sollen?
Ein Teil von mir war schockiert über Kristies dreiste Lüge, ein anderer Teil war erleichtert, dass David nicht mit ihr geschlafen hatte und ein weiterer Teil von mir war über meine Erleichterung erstaunt. Schließlich wusste ich doch, dass ich nicht gut genug für ihn war. Dabei vermisste ich ihn geradezu körperlich. Meine Handfläche begann zu kribbeln, wenn ich nur daran dachte, wie er gestern im Krankenhausfahrstuhl meine Hand gehalten hatte, oder wie geborgen ich mich nach Daniels Übergriff in seinen Armen gefühlt hatte. Die Tatsache, dass mein Körper offenbar aufgehört hatte auf meinen Verstand zu hören, machte mir Angst.
Gleichzeitig ertappte ich mich tagsüber immer wieder dabei, wie ich aufs Handy schaute, um enttäuscht zu sein, dass er nicht geschrieben hatte. Aber warum sollte er auch? Er war bei der Weihnachtsparty seiner Mutter und würde Weihnachten mit ihr und seiner Schwester verbringen und übermorgen nach Heatherfield Castle fahren. Er wäre eine ganze Woche, bis ins neue Jahr, fort. Danach würde er mich längst vergessen haben.
Doch David und meine widersprüchlichen Gefühle waren nicht mein einziges Problem, an diesem Heiligabend, der für mich alles andere als besinnlich war. Da war die Bedrohung durch Roy Miller und seine Reporterkollegen. Und die Frage, wie es beruflich weitergehen sollte. Ich konnte nicht mehr mit Daniel zusammenarbeiten, soviel stand fest, aber was sollte ich tun? Würde mir Frank glauben, wenn ich ihm von dem Vorfall berichtete, oder war er zu sehr in seinen Vorurteilen gefangen, als dass er mich überhaupt anhören würde. Es ging immerhin um seinen Geschäftspartner und ich war nur seine Sekretärin. Diejenige, die beim Knutschen mit dem Earl of Dunbrook erwischt worden war. Es war nicht schwer zu erraten, wem Frank glauben würde und wer sich letztendlich nach einem neuen Job würde umsehen müssen.
Während Heiligabend so dahin plätscherte, nahmen diese düsteren Gedanken immer mehr Raum ein, auch wenn meine Familie, die neben mir auf dem Sofa saß, nichts davon ahnte. Ich wollte den Jungs ihre Vorfreude auf die Weihnachtsgeschenke morgen nicht verderben und meinen Eltern und Granny keine Sorgen bereiten, also gab ich alles, um normal zu wirken. Ich war hilfsbereit wie immer, spielte mit den Jungs, hörte mir geduldig und interessiert Grannys Erinnerungen an längst vergangene Weihnachten an und war betont fröhlich, zu fröhlich vielleicht. Doch niemandem fiel es auf. Dem Anschein nach war alles wie immer, wie jede Weihnachten. Was in meinen Gedanken vor sich ging, konnte niemand sehen. Doch die meiste Zeit hätte ich heulen können. Am Ende des Abends war ich fast erleichtert, nach Hause gehen zu dürfen. Meine Familie würde ich morgen zum Festtagsfrühstück wiedersehen, wenn Santa Claus die Geschenke unter den Christbaum gelegt hatte. Und irgendwann wäre auch dieses Weihnachten vorbei.
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Love Christmas - A Cinderella Story
RomanceCarolyn ist für alle da: Ihre alleinerziehende Schwester und deren Zwillinge, die pflegebedürftige Großmutter und ihren Chef, für den Überstunden nichts zählen. Für sich selbst bleibt keine Zeit. - Bis sie ihre beste Freundin zu einem vorweihnacht...