•Unwürdig•

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Zwanzig Jahre zuvor

In einer warmen Sommernacht wurden Finn und Kina in diesem Haus geboren. Der Himmel war sternenklar, kein einziges Wölkchen zeigte sich am Himmel.

Als der Vollmond seine volle Größe erreichte, erblickte die Erstgeborene, Kina, im strahlenden Mondlicht das Licht der Welt.

Wenige Minuten später zog ein starker Wind auf, der Mond war abnehmend und Wolken schoben sich vor den Mond. Der Zweitgeborene, Finn, erblickte das Licht der Welt.

Kina war die Einzige, die von ihren Eltern, die Wahrheit darüber erfahren hatte, dass sie in jener Nacht diejenige war, die bei Vollmond geboren wurde und Finn beim abnehmenden Mond geboren wurde. Ihre Eltern weihten die an ihrem fünften Geburtstag in dieses Geheimnis, als sie sich zum ersten Mal in einen kleinen braunen Wolf verwandelte, Jahre bevor Finn sich das erste Mal verwandeln würden. Schon früh musste Kina ihren Eltern, das Versprechen abgeben, sich niemals wieder in einen Werwolf zu verwandeln. Viele Jahre bestand ihre Morgenroutine aus einer Tasse frisch gebrühten Wolfskraut-Tee, der ihren Wolf, aber auch ihren Körper, schwächen würde. Sie verlor den Zugang zu ihrem Wolf und somit einen Teil von sich selbst. Bis zu dem Tag, als ihre Mutter starb.

Ihre Eltern machten sie Teil einer Verschwörung gegen ihren eigenen Bruder, doch ersparten ihr die Grausamkeit der ganzen Wahrheit. Die Wahrheit, dass sie die wahre Alphawölfin des Vollmondrudels war, in einer Welt, die von Männern regiert wurde.

Wenige Minuten nachdem der Zweitgeborene, Finn, zur Welt gekommen war, setzte ein starkes Gewitter ein. Die beiden Neugeborenen wurden von ihrem Vater sanft im Arm gewogen, während ihre Mutter unter stärksten Schmerzen die Drittgeborene zur Welt brachte.

Die Drittgeborene, May, kam stumm zur Welt. Als sie ihre Augen öffnete und ihre Mutter interessiert anblickte, erschrak Cadinca und liess das kleine Mädchen auf den harten Holzboden fallen. Cadinca begann, ebenso wie Kina und Finn, fürchterlich zu weinen, doch May blieb stumm. Magnus wollte seiner Mate zu Hilfe eilen, doch erstarrte, als sein Blick auf das kleine Mädchen fiel.

Ihre Augen waren blutrot. Sie war unwürdig.

Magnus drückte Cadinca die beiden Kinder in den Arm und packte May angewiedert im Nacken, die noch immer kein Geräusch von sich gegeben hatte. Er marschierte zur Türe.
„Was machst du?", fragte Cadinca weinend.
„Das was getan werden muss.", antwortete Magnus kalt.

Im strömenden Regen lief er zu dem großen, runden Stein, der im Vorgarten vor der Veranda stand und legte das das kleine Mädchen unsaft ab. May sah ihren Vater mit seinen grossen roten Augen an und lächelte. Doch auch das kleine, schiefe Lächseln seiner Tochter konnte sein Herz nicht erreichen. In seinen Augen war May unwürdig, ein Wolf, der nicht von der Mondgöttin gesegnet war und somit nicht existieren durfte. Unwürdige waren wild, unberechenbar und gefährlich. Wenn auch die meisten Unwürdigen als normale, würdige Werwölfe geboren wurden und erst im Verlauf ihres Lebens als unwürdige aus ihren Rudeln verbannt wurden, so gab es doch immer wieder Fälle, in denen unwürdige Welpen geboren wurden.

Noch immer hatte May kein Geräusch von sich gegeben. Magnus blickte auf sie herab und wollte seine Hand von mir nehmen, doch das Mädchen griff, obwohl erst wenige Minuten alt, reflexartig nach der Hand des Vaters. Angewidert schüttelte er die Hand ab, was dazu führte dass ich Tränen in den Augen des kleinen Mädchens bildeten. Magnus drehte sich um. Er lief auf die Terrasse zu, öffnete die Türe ohne ein weiteres Mal zurückzublicken und schloss sie wieder und bemerkte so nicht, wie sich zwei rote Punkte vom Waldrand her auf das Haus zubewegten. Er liess May im strömenden Regen alleine. Das Weinen von Kina und Finn war verstummt, doch von draußen hörten sie das bitterliche Weinen des dritten Kindes. Cadinca schluchzte leise, während Kina und Finn in ihrem Armen eingeschlafen waren. Magnus blickte seiner Mate traurig in die Augen und streichelte ihr Gesicht.
„Die Mondgötting wird sich darum kümmern.", sprach er leise.
Er gab ihr einen leichten Kuss auf sie Stirn, als das Haus von einem ohrenbetäubenden Beben erfasst wurde. Erschrocken blickten die Eltern aus dem Haus und sahen wie sich ein Feuer im Vorgarten ausbreitete. Ein Blitz musste dort eingeschlagen sein, wo May auf den großen runden Stein gelegen hatte, der nun in zwei Hälften gespalten war.

Und so ging May als das vergessene Alphakind in die Geschichte des Vollmondrudels ein, auch wenn ihr Name in keinem Geschichtsbuch oder Stammbaum zu finden sein wird. Mit dem Tod ihrer Mutter, blieb einzig ihr Vater als Wahrer ihrer Erinnerung zurück. Niemand würde die Bedeutung hinter dem grossen, runden, gespaltenen Stein im Vorgarten verstehen. In einigen Jahrzehnten würde er entfernt werden, unbemerkt dessen, dass er als Grab von May, dem drittgeborenen Alphakind, gedient hatte.

Alphablut - Legends of AlikanteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt