Die Begabten 12

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Elodie
Ich krallte meine Finger in den flauschigen Stoff des Sessels, als es heftig in diesem Wagen ruckelte.
„Es geht wohl los!", freute Bright sich und er rannte zum Fenster, mit einer Begeisterung die ich nicht richtig verstand. Wie konnte man sich freuen vom Boden abzuheben und auf Menschen zu vertrauen, die man nicht kannte? Wir gehörten AUS GUTEM GRUND auf den Boden. Und doch spürte ich in meinem Magen, wie wir an höhe gewonnen und über den Baumkronen schwebten. Ich konnte nicht glauben, dass Bändiger der Luft zu sowas imstande waren. Mein Herz raste bei diesen Gedanken, wie in Panik und ich unterdrückte den Drang aus dem Fenster zu sehen und betrachtete lieber den Prinzen. Auch, wenn mir seine Geschichte einen Hauch an Sympathie für ihn verliehen hatte, machte er mich wütend. Den Grund wusste ich nicht genau. Ich betrachtete sein schönes Gesicht und fragte mich wirklich, ob diese Schönheit zu einer Sirene gehörte. Mussten wir schön sein um unsere Gabe anwenden zu können? Was stand über uns in den Büchern über die Begabten?
„Ich kann nicht sehr viele Lieder singen...nur Kinder-und Wiegenlieder...", begann ich...ich war mir nicht sicher, ob ich so als Sängerin durchkam.
„Du hattest wohl auch nicht viel Gelegenheit um zu singen, hm?", fragte der Prinz in Gedanken verloren. Oder eher verloren in der Vergangenheit. Ich schüttelte den Kopf. Der Prinz betrachtete mich „Ich habe ein Buch mit alyischen Liedern...wir werden üben." Ich nickte und stand auf, trat direkt vor den Prinzen, er sah zu mir hinauf, fragend...so sehr ich ihn hassen wollte...meinen neuen Besitzer...doch er hatte mich aus gutem Grund gekauft...für Begabte aus seinem Land. Ihr Leben.
„Du warst ein kleines Kind, gerade mal fähig zu sprechen, du hattest keine Ahnung von deiner Macht. Es war ein Unfall.", sagte ich leise und legte zögernd eine Hand auf seine Schulter.
„Du trägst keine Schuld."
Blassblaue Augen durchbohrten mich mit ihrem Blick und ich dachte er würde mir gar nicht darauf antworten, bis seine wunderschöne Stimme den Raum erfüllte:
„Das Gefühl der Schuld kann mir niemand nehmen, nicht einmal Du."
Meine Augen trafen auf seine und ich hob meine Mundwinkel.
„Ich könnte es versuchen, in einem unkonzentrierten Moment. Wenn du willst. Ich könnte dir den Schmerz nehmen."
Der Prinz schüttelte nur den Kopf und seine weißen Haare fielen ihm in die makellose Stirn.
„Die Schuld ist etwas, was mich zu dem macht was ich bin, das darf man mir nicht nehmen.", flüsterte er und ich nickte zur Antwort. Ich würde meine Macht nicht ungefragt an ihm anwenden, solange es für mich nicht nötig wird.
Als Sirene musste man sich immer vor eine Entscheidung stellen.
Waren wir bereit in den Willen des anderen einzugreifen?
Und es gab auch eine Frage, die wir uns bei jeder, uns nahen Person, stellen mussten.
Liebt man mich um meinet Willen? Oder aufgrund meiner Macht?

Es ruckelte heftig in diesem schwebenden Wagen und ich war noch nie so schnell, auf einen Sessel zu gerannt. Bright betrachtete mich mitleidig. „Höhenangst?", hauchte er leise und kam vom Fenster auf mich zu. Ich schüttelte den Kopf.
„Schlechte Erinnerungen, Bändiger der Luft sind nicht ohne...haben mir die Luft genommen und mich 10 Meter in die Höhe geworfen und auch fallen gelassen." Ich zuckte mit den Schultern. Geschockt sog Bright die Luft ein und ich konnte mir ein grinsen nicht verkneifen „Keine Sorge, er hat schlussendlich mehr gelitten als ich."

Leith
In der Nacht starrte ich zum Fenster hinaus und konnte nicht schlafen. Zwei Jahre...zwei Jahre hatte ich nach einer anderen Sirene gesucht. Nun, da ich sie hatte, sollte ich eigentlich erleichtert sein. Doch nun kam die schwierigste Aufgabe. Wie sollten wir meinen Bruder davon überzeugen, meinem Besitztum zu vertrauen? Am besten über gemeinsamen Hass? Oder gemeinsame Angst? Meine Gedanken und Pläne rasten durch meinen Kopf und ließen mich nicht ruhen. Meine Schläfen pochten schon, aber ich konnte es nicht abschalten. Ich starrte in die Sterne, die mir in diesem Wagen schon beinahe viel zu nah waren. So groß und dennoch unerreichbar. Meine Macht war so ähnlich. Ich wusste ich könnte mehr tun, aber erreichen konnte ich es nicht.
Ich erstarrte, als plötzlich die Stille der Nacht unterbrochen wurde. Ich hatte gar nicht realisiert, dass die Räume der Sirene direkt neben meinen platziert waren. Das erkannte ich nur, weil ihre makellose Stimme so laut und sanft durch das offene Fenster wehte, dass ich die Tränen darin erhörte. Ein Lied über Heimat zerriss der armen Sirene gerade das Herz. Aber nicht nur der einen. Auch mir.
Sie würde Ferhalla wahrscheinlich befremdlich finden. Kannte sie überhaupt Schnee? Oder Kälte im generellen?
Sie kannte nur Sonne und Hitze. Den sandigen Boden der Arena würde sie wohl nie wieder sehen...würde sie das vermissen?
Die Kämpfe? Den Schmerz?
Das Lied erreichte langsam seinen Höhepunkt und hinterließ eine Gänsehaut auf meinen Armen. Dennoch verleitete das Muster, welches sie aus den verschiedensten Tönen webte, meinen Kopf auf die vielen Kissen abzulegen. Mein Herzschlag zu verlangsamen. Sie kontrollierte meinen Körper wie eine Puppe und ließ mich entspannen. Benutzte sie ihre Macht bei dem Gesang? Zwang sie mich zum Schlaf? Wieso konnte ich mich dagegen nicht wehren? War dieser eine Tag so anstrengend für meinen Geist gewesen? Ich wahr wohl so schwach.
Ich betrachtete immer noch die viel zu nahen Sterne, die am Himmel funkelten.
Bis meine Augen zufielen und meine Seele sich ruhig in die Kissen legte. Ein Gefühl von Sehnsucht erfüllte mich und ich hatte Heimweh nach einem Ort, den ich gar nicht kannte. Den es vielleicht auch gar nicht gab.
Ihre Stimme, eine Vorahnung von einem Ort der Geborgenheit und Liebe. Sie malte ein Bild aus Farben, die mir noch nie bewusst geworden waren. Sie kreierte einen Traum aus dem ich nie wieder aufwachen wollte.
Doch als Elodie verstummte schien es, als würden die Farben des Traumes unkontrolliert heller werden. Sie verblassten und verschmolzen zu einem schmerzenden, grellen Weiß. Es blendete mich und ich schrie vor Schmerz auf. Es brannte mir die Augen aus, bis ich ohnmächtig in die Schwärze fiel.

Die BegabtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt