Kapitel 2.3: Am Ersten der Nemesis

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Der Weihrauch kratzte ihm in der Kehle.

Damian sah zu, wie sich die trägen Schlieren aus der Schale vor ihm hoben und zur Decke schlängelten, geradewegs auf das kreisrunde Loch blauen Himmels zu. Er wünschte, er könnte es ihnen gleich tun. Sich in Luft auflösen, einfach verschwinden. Die Hitze des Tempels, die vielen schwitzenden Menschen um ihn herum und das erstickende Aroma nach verbranntem Weihrauchharz raubten ihm langsam aber stetig den Atem. 

Vielleicht war es auch die Angst. Zu viele Menschen, die einen anstarrten, machten ihn immer ein wenig nervös. Er stand nicht gerne im Mittelpunkt. Wenn er wählen konnte, zog er das Vier-Augen Gespräch jeder Rede auf offener Bühne vor. Keine idealen Voraussetzungen für einen zukünftigen König, aber Damian hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass sich dieser Aspekt seines Charakters wohl nicht mehr ändern würde. Veronika nannte es „seine Gelehrten-Seite". Der Teil von ihm, der lieber zuhörte und beobachtete, als selbst zu sprechen. In einem anderen Leben wäre er vielleicht ein guter Wissenschaftler geworden, aber Gott hatte andere Pläne für ihn.

Und heute, am ersten Tag des heiligen Monats Nemesis, sahen diese Pläne vor, in einem vollbesetzten Tempel zu sitzen und Lux für ein weiteres Jahr die Treue zu schwören. Da half nur eins: Augen zu und durch. 

Nicht einmal Veronika konnte ihm beistehen. Die Sitzordnung im Tempel folgte einer strengen Hierarchie, die ranghöchsten vorne, die gesellschaftlich schwächsten ganz hinten und sie saß ein halbes Dutzend Reihen von ihm entfernt bei den anderen Lehrern der Akademie.

Damian drehte den Kopf nach hinten und ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Hölzerne Wandschirme, mit Ornamenten-Schnitzereien durchzogen, bedeckten die roten Glasfenster des Tempels und warfen kunstvoll zerschnittene Schatten auf den Marmorboden. Im rotgefärbten, weihrauchgetrübten Dämmerlicht war es schwer, Gesichter auszumachen. Aber  Veronikas Kollegium stach schon allein durch ihre weißen Tuniken hervor. Die klügsten Köpfe des Landes, an einem Ort versammelt. Was hätte er nicht gegeben, sein Gold, sein Anrecht auf die Krone, alles, um in diesem Moment einer von ihnen zu sein. 

Eine Stimme unterbrach seine Tagträume: „Seine Majestät, der König!"

Begleitet von leisem Murmeln erhoben sich die Versammelten. Auch Damian stand auf, die Hände vor dem Körper gefaltet, den Kopf respektvoll gesenkt. 

Es herrschte völlige Stille, als der König durch den Mittelgang nach vorn schritt. In früheren Zeiten, so hatte Damian gelesen, waren Gottesdienste von Musik und Gesängen begleitet gewesen. Die wichtigsten Gebete mussten damals sogar gesunden werden. Aber natürlich war all das gewesen, bevor Gott seinen Namen geoffenbart und dem König erklärt hatte, wie genau er verehrt werden wollte. 

Nach so vielen Gottesdiensten hörte Damian mittlerweile schon am Klang, wann der König bei ihnen angekommen war. Erst als die schweren Stiefel endlich innehielten, wagte er, den Kopf zu heben. Vor dem Altar, mit dem Rücken zu ihm, stand der größte Mann im ganzen Tempel. Er war fast zwei Meter groß, mit breiten Schultern, über denen ein silberner Mantel hing und einem verhältnismäßig kleinen Kopf. Die wenigen Haare darauf waren mittlerweile ergraut. 

Charon von Verlon. Sein König und sein Vater.

In genau dieser Reihenfolge.

Erst als der König auf einem Sitz ganz vorne Platz nahm, war es auch dem Rest von ihnen gestattet. Der oberste Tempelpriester trat hinter den Altar, flankiert von einer Schar heiliger Diener. Beim letzten großen Fest im Frühling, der Erntebitte, waren ihre langen Mäntel grün gewesen. Nun trugen sie Blutrot, die Farbe der Rache. 

Der Altar, ein massiver Steinblock ohne Verzierungen, bildete das Zentrum des Tempels, genau unter der Kuppel mit der kreisförmigen Öffnung zum Himmel und flankiert von den zwei Feuerschalen, in denen der Weihrauch brannte. Jetzt zur Mittagszeit stand die Sonne genau senkrecht darüber. Wie eine Säule aus weißen Licht ergoss sie sich über die Altarplatte. Die Lichtbrechung der Weihrauchschwaden ließ sie noch gebündelter wirken, fast körperlich greifbar. Ein einziger göttlicher Strahl, aus dem Himmel zu ihnen herab ins Halbdunkel geschickt. Wer auch immer diesen Tempel errichtet hatte, er verstand sein Handwerk. 

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt