Die Hexe lag mit geschlossenen Augen an den Stamm einer alten Olive gelehnt. Mächtige Wurzeln umrahmten ihre schlanke Gestalt, was den Eindruck erweckte, der Baum berge sie in seinen Armen. Thalia hatte ihr schon etwas zu Essen gebracht und ihr dabei klammheimlich ein ledernes Band für ihre losen Haare zugesteckt, während sie dachte, niemand beobachtete sie. Kaum sah die Hexe mich näherkommen, versuchte sie sich aufrechter hinzusetzen und verzog prompt das Gesicht, als sie sich mit ihrer aufgeschürften Hand zu fest am Boden abstützte.
Definitiv die dumme Seite von Stolz.
„Ihr müsst mir nichts vorspielen", sagte ich statt einer Begrüßung. „Ich wandere schon mein halbes Leben. Da erkennt man, wenn jemand am Ende ist." Es war jetzt nicht die charmanteste Art, ihr das zu sagen, aber ich war nie für meine Einfühlsamkeit bekannt gewesen. Ächzend ging ich vor ihr in die Knie. „Eure Schürfwunden. Darf ich sie sehen?"
„Es ist nichts."
„Sie sollten trotzdem gesäubert werden."
„Wozu die Mühe? Wenn ich an vergiftetem Blut sterbe, spart Ihr Euch wenigsten das Holz für meinen Scheiterhaufen."
„Ich bin zu müde für zynische Wortspielchen, Hexe", sagte ich kühl. „Euer Leben liegt in meiner Verantwortung. Und ich gedenke, es zu erhalten."
„Ach ja?" Über ihr Gesicht zuckte ein bitteres Lächeln. „Damit Euch das Gold Eures hübschen jungen Prinzen nicht durch die Lappen geht?"
„Na, zumindest nicht, weil Ihr so sympathisch seid!", giftete ich zurück, ungefähr ebenso herzlich. Sie wich meinem Blick aus, biss sich auf die Unterlippe. „Ihr habt Recht", sagte ich. „Diese Reise ist für mich Mittel zum Zweck. Genau wie für Euch. Es muss ja einen Grund geben, warum Ihr eingewilligt habt. Und mindestens dafür wäre es von Vorteil, am Leben zu bleiben, stimmt's?"
Sie starrte mich an. Ich sah, wie ihr Kiefer hin und her mahlte, als würde sie auf einer bissigen Bemerkung kauen. „Vielleicht wollte ich einfach mal wieder den Himmel sehen", murmelte sie, jetzt deutlich leiser als zuvor. „Die Sterne. Den Wald."
„Macht so weiter und Ihr erreicht ihn nicht mehr lebend."
Wieder presste sie die Lippen zusammen. Sie schien mit sich zu ringen, wie ein trotziges Kind. Schließlich hielt sie mir doch ihre Hände entgegen.
„Na also." Mit etwas Wasser aus meiner Flasche wusch ich den Straßendreck ab und tupfte Alkohol auf die Schürfwunden. Dann nutzte ich das restliche Tageslicht, um ihr Knie zu untersuchen. Es war aufgeschlagen, aber die Verletzung schien nicht tief. Ich wiederholte die Prozedur, dieses Mal mit mehr Alkohol. Dabei verzog die Hexe keine Miene. Entweder sie hatte eine hohe Schmerztoleranz oder sie war so stolz, dass es wirklich schon an Dummheit grenzte.
„Zieht die Stiefel aus", wies ich sie an und legte den blutigen Leinenfetzen zur Seite. „Nein, lasst, ich mache es", unterbrach ich sie rasch, als ich sah, wie schwerfällig sie sich vorbeugte. So würde das noch Stunden dauern und ich hatte allmählich Hunger.
Meine Augen weiteten sich, als ich den ersten Stiefel von ihrem Fuß zog. „Was habt Ihr gemacht?" Ich hatte damit gerechnet, dass sie Blasen haben würde. Neue Schuhe mussten erst eingelaufen werden, davon blieb kein Wanderer verschont. Aber das hier entsetzte mich.
Die Rückseite des Sockens war blutig. So blutig, dass der Stoff inzwischen ganz steif war. Sie hatte sich offenbar die komplette Ferse wundgerieben.
Als ich vorsichtig den blutverkrusteten Stoff von der Haut löste, stieß die Hexe ein Zischen aus und presste ihren Kopf in die Rinde des Stamms. Der Anblick darunter übertraf meine Vermutung. Selbst ich, die nicht gerade zimperlich war, schauderte. Ihre Ferse war mehrere Hautschichten tief aufgescheuert. Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Jeder Schritt musste eine Qual gewesen sein. Und ich brauchte nicht lange, um den Grund dafür zu finden.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...