Mera
Ich war es gewohnt, mit der Sonne aufzustehen. Meistens wurde ich sogar schon vor den ersten Strahlen wach, wenn der Morgenchor der Vögel den neuen Tag ankündigte. So auch heute.
Tau lag über den Lavendelfeldern von Sarsonne. Die Feuchtigkeit verstärkte den herben Duft der Blüten und ich nahm ein paar tiefe, kühle Atemzüge, bevor ich mich steckte. Mein Nacken und meine Schultermuskeln waren steif wie erwartet. Selbst der Körper einer Waldweisen brauchte in den ersten Tagen des Wanderns Zeit, sich wieder auf das am-Boden-schlafen einzustellen. Ganz zu schweigen von meinen schmerzenden Füßen. Heute Abend würde ich sie mit Kiefernessenz einreiben müssen.
Ich warf einen Blick zur Hexe unter dem Olivenbaum. Im Schlaf war ihr Kopf seitlich auf ihre Brust gesunken. Gut für sie. Sollte sie ruhig noch eine Weile ausruhen, der Tag würde bald genug anstrengend werden.
Seufzend warf ich meine Decke zurück und erhob mich. Mit ein paar Handgriffen schürte ich das Feuer und kramte meinen Reisekochtopf hervor. Dann machte ich mich auf den Weg zum Bach, um Wasser für Haferschleim und Tee zu holen. Ich konnte das Plätschern des kleinen Wasserlaufs schon hören, als mich ein anderes Geräusch plötzlich innehalten ließ. Instinktiv ging ich hinter einer Olive in Deckung und lauschte. Es war...Gesang. Weiblicher Gesang.
Stirnrunzelnd spähte ich an dem knorrigen Stamm vorbei zum Bach. Nebel stieg in Fetzen aus der Niederung. Wo die Sonne schon durchkam, glitzerte das Wasser. Meine Finger tasteten in die tiefen Furchen des Olivenholzes, um Halt zu finden, und ich beugte mich weiter vor. Thalia saß inmitten der Lavendelblüten. Sie hatte die Augen geschlossen, ein paar Zitronenfalter flatterten um ihren Kopf. Und sie sang.
Es war ein merkwürdiger Gesang, anders als ich ihn von einer Soldatin erwartet hätte. Getragen und melancholisch, eine Mischung zwischen Schlaflied und Klage. Obwohl Thalia nicht unbedingt eine schöne Stimme hatte, traf mich jeder der langezogenen Vokale mitten ins Herz. Die Melodie musste aus dem Süden stammen, denn ich kannte sie nicht. Vermisste Thalia ihre Heimat? Ich wollte nicht lauschen, aber die Musik zog mich derart in Bann, dass ich mich nicht vom Fleck rühren konnte. Als sie geendet hatte, war es, als erwachte ich aus einer Trance.
Thalia griff in ihre Tasche und zog einen Beutel aus perlmuttener Seide hervor, schillernd wie Wellen im Sonnenlicht. Darin eingewickelt verbarg sich ein kristallenes Fläschchen mit klarer Flüssigkeit. Es war geformt wie eine Träne und mit einem silbernen Verschluss versehen. Viel zu wertvoll eigentlich, um es mit auf so eine Reise zu nehmen.
Mit dem Daumen schnickte sie den Verschluss zurück und hielt das Fläschchen über ihren geöffneten Mund. Ein einzelner Tropfen brach glitzernd das Sonnenlicht, als er auf ihre Zunge fiel.
Zuerst geschah nichts. Dann lief ein Schaudern durch Thalias Körper. Sie stützte die freie Hand am Boden ab, formte mit dem Rücken ein Hohlkreuz. Ihre Haarspitzen streiften die Erde, als sie ihren Hals nach hinten streckte und den Kopf weit zurück in den Nacken legte. Blendend weißes Sonnenlicht fiel über ihre entblößte Kehle. Eine ziemlich verwundbare Position, für eine Soldatin fern ihrer Gruppe. Ihr Gesicht war dem Himmel zugewandt. Im Profil konnte ich erkennen, dass ihre Augen geschlossen und ihre Lippen leicht geöffnet waren. Selbst aus der Entfernung war zu sehen, wie heftig sie atmete. Sie flüstere etwas. Für mich klang es wie ein Wimmern.
Trotzdem zeigte ihr Verhalten keine Anzeichen von Panik. Im Gegenteil. Wenn sie Schmerzen hatte, dann schien Thalia sie zu genießen. Ich kannte nur ein Wort für so einen Zustand:
Ekstase.
Mein anfänglicher Schock verwandelte sich zu Schmunzeln. Schon gestern Abend war Thalia dem Alkohol nicht gerade abgeneigt gewesen. Offenbar besaß sie auch noch andere berauschende Substanzen. Und, der Flasche nach zu schließen, ziemlich teure. Im Süden bekam man gegen Geld eine reiche Auswahl von solchem Zeug, das wusste ich.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...