Während des steilen Abstiegs von den Nadeln wechselten die Hexe und ich kein Wort. Selbst die anderen schienen zu spüren, dass etwas vorgefallen war, obwohl sich die Laune von Cosmas und Marcus mit jedem Meter, den die dunkle Masse des Arbors näherrückte, besserte. Heute würden wir die Nacht im Gasthaus Zum Letzten Baum verbringen. Eine Taverne, die auch bei der Waldwacht beliebt war und die unsere letzte Verbindung zur Zivilisation vor dem Arbor darstellte. Das bedeutete zum ersten Mal seit langem wieder ein echtes Bett und Mahlzeiten, die nicht über dem Lagerfeuer gekocht waren.
Gegen Nachmittag erreichten wir die Ebene. Der Letzte Baum lag einige Kilometer vor der Grenze zum Arbor. Er war um einen uralten Eichenbaum herum gebaut, der mitten durch den Schankraum wuchs und dem Gasthaus seinen Namen gegeben hatte. Ich mochte die Taverne für ihre Sauberkeit und den bescheidenen Luxus, den sie bot. Außerdem hatten sich auf der schmalen Straße, die zum Hauptgebäude führte, allerlei Händler angesiedelt, sodass man vor der Walddurchquerung nochmal seine Vorräte aufstocken konnte.
„Hier!" Thalia warf jedem von uns ein wenig Geld aus der Börse des Prinzen zu. „Kauft euch, was ihr braucht. Im Arbor können wir es eh nicht mehr ausgeben."
Verblüfft fing die Hexe ihre Münzen auf. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, auch etwas zu bekommen. Was kaufte sich wohl jemand, der siebzehn Jahre lang nichts von der Welt mitbekommen hatte? Ich beobachtete, wie sie zum einem der Händler für Schönheitsartikel ging. Während ich so tat, als inspizierte ich eine Auslage Wasserschläuche aus Leder, verfolgte ich sie mit den Augen. Sie öffnete eine Reihe kleiner Glasfläschchen mit Öl, roch daran und stellte sie dann wieder zurück. Nur eines betrachtete sie länger. Schließlich reichte sie es dem Händler zusammen mit einem Block Olivenseife und ein paar Münzen.
Ich schüttelte den Kopf. Nur eine Südländerin würde auf die Idee kommen, Duftöl und Seife mit in den Arbor zu nehmen.
Nachdem wir alles Nötige und Unnötige besorgt hatten, betraten wir das Gasthaus. Thalia bezahlte zwei Zimmer mit jeweils eigenen Bädern, eines für die Männer und eines für uns. Außerdem konnten wir unsere dreckigen Sachen zum Waschen abgeben und morgen wieder mitnehmen.
„Was dagegen, wenn ich als erstes bade?", fragte Thalia noch im Gang. „Ich nehme auch schonmal euer Gepäck mit ins Zimmer."
Ich zuckte mit den Schultern. Das Essen interessierte mich im Moment ohnehin mehr. „Vorschlag: Du gehst mit der Hexe nach oben und ich organisiere, dass eure Mahlzeiten hochgebracht werden. Damit sollte sie sich vielleicht nicht im Schankraum sehen lassen." Ich nickte zu den Dornenfesseln, die halb unter dem Mantel der Hexe hervorschauten. Sie schürzte nur die Lippen.
„Guter Plan." Thalia schulterte meinen Rucksack und Bogen. „Wir holen dich, wenn du dran bist."
„Lasst Euch Zeit." Ich war gar nicht undankbar, mal einen Moment für mich zu haben. Alleine betrat ich den Schankraum.
Goldenes Abendlicht schien durch die Fenster auf den polierten Dielenboden und die holzvertäfelten Wände. Die Fenster selbst waren aus Bleiglas und schon im Stil des Nordens gefertigt, mit engen Mittel-und Querstreben. Bunte Glasscherben stellten Szenen des Arbors nach. Allesamt aus der Zeit, bevor er ein Gefängnis für Monster geworden war. Mein Lieblingsfenster war das nach Osten hin. Es zeigte eine Vollmondnacht über einem kleinen Teich, in dem ein Einhorn stand und trank. Silberne Mondmotten flatterten um seinen schönen Kopf, so lebensecht, dass man meinte, sie würden sich jeden Moment vom Glas lösen und in den Schankraum segeln. Mondmotten hatte ich im Wald schon oft gesehen, ein Einhorn hingegen noch nie.
In der Mitte des Schankraums ragte der Eichenstamm aus dem Boden hervor. Zahlreiche Gravuren bedeckten die raue Rinde wie ein lebendiges Gästebuch. An den Tischen drum herum saßen die Gäste verteilt, eine Mischung aus allen Regionen des Landes, wie immer. Der Letzte Baum war der ideale Ort, um Neuigkeiten aufzuschnappen.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...