Leider wurde mein Abgang wenig dramatisch. Nach zehn Minuten auf dem Baum war mir in meinen nassen Sachen so kalt, dass ich notgedrungen wieder absteigen musste.
Am Boden machten die Soldaten gerade Feuer. Cosmas verband der Hexe, die mittlerweile unter einer warmen Decke steckte, ihre Handgelenke und Marcus stellte ihre Stiefel zum Trocknen auf. Waren die ihr jetzt alle verfallen, oder was? Mich bediente niemand so.
„Wir lagern hier für die Nacht, in Ordnung?", fragte Thalia, als ich an ihr vorbeiging und meinen Rucksack vom Ufer holte. Ich nickte nur knapp.
Dann stapfte ich ins Unterholz davon, geschützt vor den Blicken der anderen und schälte mich aus meinen durchnässten Kleidern. Ich hängte sie über einen niedrigen Ast und zog frische an, bevor ich wieder auf einen Baum kletterte. Mir war klar, dass ich mich wie ein beleidigtes Kleinkind aufführte, aber das kümmerte mich im Moment herzlich wenig. Heute wollte ich keinen von denen mehr sehen. Außerdem schlief ich im Arbor, wenn möglich, immer auf Bäumen. Von dort hatte ich die beste Aussicht und konnte mit meinen Pfeilen auf Feinde am Boden schießen, sollte es nötig werden. Im Moment war die Hexe allerdings der einzige Feind, den ich unter mir sehen konnte. Sie saß an den Baumstamm gelehnt, beide Hände um einen dampfenden Becher Tee geschlossen. Ziemlich unverschämt. Mir hätte ja auch mal jemand einen anbieten können. Schließlich hatte ich sie aus dem Wasser gezogen, nicht umgekehrt.
„Was erwartest du? War doch klar, dass auf so einer Reise auch mal die Nerven blank liegen", drang Thalias Stimme von unten herauf. Sie saß mit den Männern am Feuer.
„Dieses Mädchen ist gruselig", murmelte Cosmas, „Habt ihr gesehen, wie sie reingesprungen ist? Das hätte ich nie gemacht."
„Ich hab's immer gesagt." Marcus hob den Zeigefinger. „Die Kleinen sind die gefährlichsten."
Schnaubend kletterte ich höher in den Baum, hielt mich an Efeu und Lianen, bis ich das Dach des Waldes durchbrach. Über mir war jetzt nur noch Himmel. Im Osten durchglühte der aufziehende Sonnenuntergang ein paar Restwolken. Es hatte leicht abgekühlt, warmer Wind ließ die Baumkronen rascheln und ich stopfte meine feuchten Haare unter die Kapuze. Dann ließ ich mich auf einem breiten Ast nieder und atmete tief durch. Schlechter hätte der erste Tag im Arbor wirklich nicht laufen können. Naja, doch. Immerhin war niemand gestorben.
Ich rieb mir über die Arme. Tiefe Zahnabdrücke hatten das Leder meines Armschutzes verbeult. Die Hexe hatte wirklich einen kräftigen Biss, morgen würde ich darunter sicher blaue Flecken haben. Stirnrunzelnd zog ich die Spina-Ranken aus der Tasche und ließ sie mir durch die Finger gleiten. Nichtmal der Weißwasser hatte das Blut von den Dornen waschen können. Es hatte sich ins Holz gefressen und sie von innen heraus verfärbt. Vorsichtig pikste ich meinen Zeigefinger an einer Dorne. Sie waren scharf wie Nähnadeln.
Leise seufzend schloss ich die Augen. In meinem Magen lag das bleierne Gewicht eines schlechten Gewissens. Ich hatte mich kindisch benommen. Zu kindisch für eine Waldweise auf ihrer ersten Mission. Egal wie müde ich war, ich hätte mich nie zu so einem Verhalten hinreißen lassen dürfen. Natürlich war die Hexe nicht absichtlich in den Fluss gefallen. Ich hatte sie ausrutschen sehen, stolpern, das Gleichgewicht verlieren. Und ihre Panik im Wasser...die war echt gewesen. Wahrscheinlich hätte sie nach ihrer Rettung jemanden gebracht, der sie in den Arm nahm und hielt, bis ihr Schock abgeklungen war. Nicht jemanden, der ihr ein Messer an die Kehle drückte. Andererseits nahm mich ja auch keiner in den Arm. Ich hatte schon immer mit allem allein fertig werden müssen, was mir das Leben und der Wald vor die Füße warfen. Und die Entscheidung über diese verdammten Fesseln traf ohnehin nicht ich allein. Oder Cosmas, Marcus und Thalia. Auch wenn sie jetzt noch so nobel taten.
Vorsichtig zog ich den Schwiegermutterspiegel aus der Tasche. Wie funktionierte das eigentlich? Musste ich nur an Damian denken?
„Zeig mir den Prinzen", murmelte ich und hielt den Spiegel mit beiden Händen. Es dauerte nicht lange und das rauchige Glas klärte sich. Damians Gesicht erschien und als er mich sah, hellte sich seine ernste Miene auf. „Mera!" Hinter ihm türmte sich ein Berg bunter Kissen.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...