Mera
Sonnenstrahlen kitzelten mir in der Nase. Mein erster Impuls war wegdrehen und weiterschlafen, wie ich es die letzten Tage in der Taverne gemacht hatte. Dann aber fiel mir wieder ein, wo ich war. Nicht in meinem Bett zuhause, sondern auf der Ladefläche eines fahrenden Wagens. Blinzelnd öffnete ich die Augen.
Irgendwo vor mir verloren sich nebelige Felder ins Endlose und die Sonne schob sich über den Horizont. Wo ihre Strahlen die Erde trafen, zogen sie eine goldene Spur über Äcker und Wiesen. Der Rest der Landschaft war noch in blassrosa Dunst gehüllt.
Ich schlug die Kapuze zurück und drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen. Schon an der Luft auf meinem Gesicht konnte ich erkennen, dass wir die Küste mittlerweile ein ganzes Stück hinter uns gelassen hatten. Sie fühlte sich frostiger und erfrischender an, als in Thisbe, wo es nachts selten wirklich abkühlte. Trotzdem durfte man sich davon nicht täuschen lassen. Wir waren immer noch im Süden und der hellblaue Himmel versprach einen heißen Tag.
Unter den Rädern des Wagens hörte ich das Knirschen feiner Steine. Wir hatten die Straße noch nicht verlassen, aber mittlerweile säumten keine Zypressen mehr den Weg. Auch die kleinen Pinienwäldchen und Korkeichen in der Gegend um Thisbe waren verschwunden. Stattdessen zogen sich die sanften Wogen eines vielfarbigen Feldermeers bis zum Horizont. Feiner Nebel, der aus den Niederungen aufstieg, deutete Bäche oder kleine Flüsse an und weiter in der Ferne sah ich die dunkelgrünen Erhebungen von Obsthainen. Doch ansonsten: Felder so weit das Auge reichte. Ein Flickenteppich in Pastell.
Sarsonne.
Ich streckte mich. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich vor mir schon die nadelförmigen Umrisse der Berge erkennen, die Sarsonné vom Arbor trennten. Es würde Tage dauern, bis wir ihre Südflanken erreichten. Gestern Nacht, als meine Reisegruppe und ich schweigend, mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen, durch die Dunkelheit gefahren waren, hatte ich die Zeit zum Planen genutzt. An Schlaf war auf diesem Karren, der jedes Schlagloch und gefühlt jeden Kiesel ungefedert an uns weitergab, ohnehin kaum zu denken gewesen. Der Prinz hatte uns für diese Reise ungefähr einen Zeitraum von zwei Monaten eingeräumt. Einfache Strecke. Das bedeutete, dass wir jeden Tag fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer laufen mussten, mit ein paar Pausen zur Erholung dazwischen. Solange wir in Sarsonné waren, sollte das kein Problem darstellen, aber im Arbor wurde der Weg schwieriger. Und nicht jeder hier machte einen fitten Eindruck. Thalia konnte von ihrer Statur her sicher mühelos mithalten. Wer mir wirklich Sorge bereitete, war die Hexe. Ihre Zeit als Gefangene hatte sie wahrscheinlich nicht gerade auf sportliche Höchstleistungen vorbereitet.
Ich wandte den Blick der Frau gegenüber zu und zuckte zusammen, als ein paar grüne Augen zurücksahen.
„Guten Morgen." Ich zwang mich zu einem Lächeln, was mehr schlecht als recht gelang. Soziale Interaktionen, noch dazu zu so früher Stunde, waren nicht gerade meine Stärke. Manchmal, nach langer Zeit im Wald, verlernte ich sogar die Fähigkeit, menschliche Gesichtsausdrücke zu spiegeln. Zumindest kam es mir so vor.
Die Hexe zeigte keine Reaktion, verzog nicht mal die Miene. Im Morgenlicht konnte ich zum ersten Mal richtig ihr Gesicht erkennen. Durch die ruckelige Fahrt war ihre Kapuze zurückgefallen und hatte ihre Haare befreit. Lange blonde Wellen flossen bis zu ihrem Bauch. Für eine Gefangene wirkte ihr Haar ungewöhnlich seidig und voll, sie musste es gut gepflegt haben. Anders als ich, die es bei tagelangen Reisen durchs Unterholz manchmal sogar aufgab, die Kletten herauszuzupfen. Nur ihre blasse Haut, die scharf hervortretenden Wangen- und Kieferknochen und die dunklen Ringe unter ihren Augen, verrieten eine gewisse Erschöpfung. Schwer zu sagen, wie alt sie war. Dreißig? Vierzig? Noch immer sah sie mich an.
Also schön. Neuer Versuch.
„Mein Name ist Mera", sagte ich leise, um die anderen nicht zu wecken. „Ich bin eine Waldweise aus dem Eldra Tal im Norden und ich werde Euch führen. Ihr müsst keine Angst vor mir haben."

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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...