Kapitel 16.2: Katakomben

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Thalia kannte sich nicht aus.

Allein an der Art, wie sie sich durch die Stadt bewegte, war das offensichtlich. Hin und wieder spähte sie auf einen kleingefalteten Zettel in ihrer Hand. Spätestens nach den nächsten zehn Straßenbiegungen war mir klar, wo sie hinwollte, also nahm ich eine Abkürzung, um ihr zuvor zu kommen. In dieser Gegend von Eldra gab es neben ein paar neueren Wohnhäusern von jungen Familien keine nennenswerten Bauwerke. Keine, außer dem alten Tempel.

Nach wenigen Minuten erreichte ich die verfallenen Mauern. Im Nachspiel der Nemesis hatte man Lux auch im Eldra Tal einen neuen Tempel gebraut. Der Alte war geplündert und alle wertvollen Altargeräte in den neuen überführt worden. Jetzt standen nur noch die Gerippe des einst heiligen Ortes. Manchmal wagten sich Jugendliche bei Mutproben in die Gangsysteme, die angeblich unter dem Tempel lagen. Keiner wusste genau, wozu sie gebaut worden waren, ob als frühe Ruhestätte der Toten, Fluchtwege bei feindlichen Angriffen oder schlicht als Stauraum. Ich, der wegen Vater ohnehin schon der Ruf einer halben Ketzerin anhaftete, war nie drinnen gewesen. Vielleicht hatte auch Ananke, die Dämonin der Hexen, dort einen Altar gehabt. Ich wusste es nicht.

Am Tempel angekommen, duckte ich mich hinter eine brüchige Säule und wartete. Meinen Rucksack und Bogen versteckte ich in einem Stauch. Als nach kurzer Zeit tatsächlich Thalia auftauchte, zog sich ein feines Lächeln über meine Lippen. Interessant. Was hatte eine Soldatin des Königs für geheime Erledigungen in meiner Stadt zu machen? Noch dazu an so einem Ort?

Thalia verschwand im Inneren des Tempels. Ich folgte ihr, die Hand an den Griff meines Jagdmessers gelegt. Durch zerborstene Spitzbogenfenster floss Sonnenlicht über schmutzige Steinbrocken und Fliesen, in deren Fugen sich bereits Moos ansetzte. Es gab keine Statuen mehr, nur noch blanken Fels und roch nach abgestandenem Wasser. Ich sah, wie ihr Umhang um eine Ecke wischte und dann eine Treppe hinab ins Dunkle.

Am Absatz zögerte ich kurz. Es war vielleicht nicht die klügste Entscheidung, ihr in den Untergrund zu folgen. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie verzweigt die Gangsysteme waren und selbst als Waldweise besaß ich nicht die Fähigkeit, im Dunklen zu sehen. Dann aber flammte ein kleines weißes Licht vor mir auf. Thalia musste es entzündet haben. Wenn ich noch länger wartete, würde ich sie verlieren und damit die letzte Chance, mich irgendwie zurückzufinden.

Meine Neugier siegte.

Tiefer und tiefer ging es hinab. Ich folgte Thalias auf- und abhüpfendem Licht und versuchte mir gleichzeitig einzuprägen, welche Biegung sie nahm. Es war nicht schwer, denn sie verließ den breiteren Haupttunnel kaum. Rechts und links von uns hörte ich Wasser plätschern, hin und wieder streifte ein kühler Windhauch oder eine herabhängende Spinnenwebe mein Gesicht. Jetzt konnte ich verstehen, warum hier Mutproben abgehalten wurden. Die Katakomben des Tempels waren der ideale Ort für Geistergeschichten. Irgendwann tauchte vor uns ein größeres Licht auf, in dem sich Thalias Flamme verlor. Und noch etwas anderes...Gesang. Es war eine schaurig schöne Melodie, eine Wehklage mit langgezogenen Vokalen in einer fremden Sprache, wie ich sie noch nie gehört hatte.

Leise schlich ich näher an die Lichtquelle, wie magnetisch angezogen von den melancholischen widerhallenden Klängen. Zum Glück dämpften der Gesang und der Sand auf dem Boden meine Schritte. Ich drückte mich seitlich in einen Gang und spähte voraus.

Vor mir lag eine steinerne Kammer, getragen von Säulen, wie eine Miniatur des Tempels über uns. Ein weißes Feuer, nicht unähnlich zu Kores magischer Flamme, brannte in einer Schale in der Mitte. Es war die einzige Lichtquelle und beleuchtete eine Gruppe von Gestalten in langen, weißen Umhängen, die im Halbkreis darum herum standen. Ihre Hände waren zum Himmel erhoben und ihre Gesichter einer Statue an der Wand dahinter zugewandt. Selbst im Halbdunkel konnte ich sehen, dass sie kein Künstler geschaffen hatte. Die groben Züge einer Frau mit schwarzem Haar und einem silbernen Reif um den Kopf waren zu erkennen, doch die Bemalung schien fleckig und schlichtweg anfängerhaft. Wie ein Provisorium.

Die Dornen der GötterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt