Mera
Tap. Tap. Tap.
Regen klopfte gegen mein Fenster. Ich konnte sie sehen, vor meinem geistigen Auge: Dicke Tropfen, die beim Aufprall am Glas zerplatzten und die Scheibe hinabrannen wie dünnflüssige Schneckenspuren.
Fröstelnd zog ich die Schultern ans Ohr und kuschelte ich mich tiefer in meine Decke. Hier im Haus konnte mir das launische Wetter des Nordens nichts anhaben.
„Mera?"
Das war sicher mein Vater. Warme Finger fuhren über meine Wange, gefolgt von etwas, Nassem, Kaltem. Ich zog die Stirn in Falten. Hatte ich Fieber? Kümmerte er sich um mich wie früher, wenn ich krank war? Fast rechnete ich damit, dass er mir gleich einen Löffel heißen Holundersaft einflößen würde und wappnete mich für den ekligen Geschmack. Stattdessen drang etwas anderes in dumpfen Wellen durch mein Bewusstsein. Etwas, das nicht in das kleine Haus am Rand des Arbors gehörte: Schmerz.
Ich schlug die Augen auf. Es war nicht mein Vater, der gesprochen hatte, oder dessen Finger mit einem nassen Tuch meine Wangen abtupften. Und ich lag auch nicht zuhause in meinem Bett, sondern am Waldboden. Gehüllt in eine Decke unter einer aufgespannten Zeltplane, auf die der Regen tropfte. Die Hexe beugte sich über mich. In der Hand hielt sie einen Leinenfetzen, mit dem sie mir offenbar gerade das Wolfsblut vom Gesicht wischte. Um uns herum war es dunkel. Der Wald jenseits der Zeltplane formte eine vom Regen verwaschene Masse aus Schattierungen in Grau. Nur in unserer künstlichen Höhle schien ein sanftes Licht. Es kam von der weißen Flamme, die in einer leeren Essensschale rechts von mir schwebte. Magie.
Ich schauderte. Magie war, was ich mein ganzes Leben lang zu fürchten gelehrt wurde. Die Macht Gottes, missbraucht und verdreht von einer Dämonin. Es war eine Sache, heimlich übriggebliebene Fläschchen mit verzauberten Heilkräutern gegen Kopfweh und Fieber zu lagern. Aber das hier...diese reine, pulsierende Energie. Das war ein ganz neues Level. Wenn uns jemand damit erwischte, wenn auch nur zufällig ein anderes Mitglied der Waldwacht über uns stolperte, würde mich nichts mehr vor der Verurteilung als Ketzerin retten.
Aber wahrscheinlich spielte das in meiner Lage ohnehin keine Rolle mehr. Diese Frau hatte ein ganzes Rudel Schwarzwölfe im Alleingang vertrieben. Und ich war ihr ausgeliefert. Wer weiß, was sie mit mir anstellte, jetzt, wo sie ihre Kräfte wiederhatte. Wollte sie sich für ihre Gefangenschaft rächen?
Naiv wie ich war, hatte ich die Dornenfesseln weggegeben. Den letzten Trumpf verspielt. Wie viele Fehler konnte ein einzelner Mensch in so kurzer Zeit eigentlich machen?
Meine Hand tastete nach dem Messer an meiner Seite.
„Davon würde ich abraten." Die Hexe hatte es bemerkt. Sie seufzte und ließ das Tuch sinken. „Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich werde Euch nicht wehtun."
Eine Weile schwiegen wir. Nur das Tap Tap des Regens auf der gewachsten Zeltplane drang durch die Stille. Die Äste der Bäume über uns bildeten ein lebendiges Dach. Verwoben sich mit dem Zeltstoff, um die Fläche zu vergrößern und uns eine sichere Höhle zu bauen. Es sah fast so aus, als wollten sie uns helfen. Uns oder der Hexe.
Warum war der Wald so auf ihrer Seite? Heilte sie, gab ihr Unterschlupf? Hatte er es auch schon zu Beginn der Reise getan? War es am Weißwasser wirklich ein Unfall gewesen, dass sie sich in der Uferböschung verheddert hatte? Oder hatte die Weide sie einfach nicht mehr losgelassen, um sie zu retten? Vielleicht sogar von ihren Fesseln zu befreien?
Stumm wartete ich. Auf Bedingungen. Forderungen, Drohungen.
In der Schule hatte mal ein Junge erzählt, Hexen hätten kein Herz. Daran könnte man sie erkennen. Sie hätten es bei der Dämonin gegen ihre Magie eingetauscht. Und deswegen seien sie nicht fähig, etwas Selbstloses zu tun.

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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...