Ablegen?
Sofort?
Zuerst verstand es Damian gar nicht. Die anderen im Saal waren schneller im Denken. Flüstern hob an, aufgeregt, fiebrig. Als witterten sie einen heraufziehenden Skandal, rückten die Zuschauer näher an den Thron heran. Zogen den Kreis um Veronika, seinen Vater und ihn enger. Er kam sich vor, wie ein wildes Tier in einer Arena.
„Also?" König Charon hob eine Braue. „Worauf wartet Ihr?"
Veronika starrte ihn an. Auch ihr schien die Bedeutung seiner Worte erst jetzt zu dämmern. „Hier?" Ihre Stimme war tonlos, als seien die Laute auf halber Strecke in ihrer Kehle stecken geblieben.
Ein Schmunzeln kräuselte die Lippen des Königs. „Habe ich mich unverständlich ausgedrückt?"
„Majestät, bitte-" Damian trat entschlossen vor, aber ein scharfer Blick seines Vaters ließ ihn verstummen.
Und dann begriff er. Das hier war nicht Veronikas Strafe.
Es war seine.
Sein Vater hatte ihm die Aktion vor dem Tempel nicht vergeben. Natürlich nicht. Dafür hatte der Ungehorsam des Thronfolgers zu hohe Wellen geschlagen. Es war Charons grausame Logik: Eine öffentliche Demütigung konnte nur durch eine öffentliche Demütigung vergolten werden. Und welcher Tag eignete sich besser, um dem Prinzen daran zu erinnern, wie ohnmächtig er war, als dieser, der für jeden anderen jungen Mann den Beginn von Unabhängigkeit und Freiheit bedeutete? Welch besserer Moment, um dem Volk zu zeigen, dass der Thronfolger immer noch auf Linie war, als der Tag seiner Volljährigkeit?
„Meine Soldaten stehen bereit, wenn Ihr Hilfe braucht", sagte Charon, nachdem sich Veronika immer noch nicht gerührt hatte. „Ein Wort von Euch-"
„Nein."
Damian sah, wie sie schluckte. Zögerlich, als könnte sie immer noch nicht fassen, was von ihr verlangt wurde, hob sie die Hände und zog den Zierkamm aus ihrem Haarknoten. Sofort sank der feine Schleier, den er gehalten hatte, hinter ihr zu Boden. Eine silberne Haarnadel nach der anderen folgte ihm. Mittlerweile war es so still im Saal, dass er jede einzelne klirrend auf den Marmor schlagen hörte. Schließlich löste sich Veronikas Frisur und ihr Haar fiel in grauen Wellen über ihre Schultern.
In all den Jahren hatte Damian sie nie mit offenen Haaren gesehen. Er kam sich unanständig vor. Als sei er in etwas Privates hineingeplatzt. Eigentlich wollte er sich umdrehen, wegsehen. Gleichzeitig zwang ihn der Gedanke an das höhnische Grinsen seines Vaters, wenn er genau das tun würde, zum Stillstehen. In seiner Brust formte sich ein Knoten.
Ein Diener trat vor und nahm Veronika den Haarkamm ab. Dann die Halskette, die Ohrringe, die sie einen nach dem anderen in seine Hände legte. Damian kam sich vor, wie bei einer öffentlichen Hinrichtung, an der Stelle, wo der Henker bezahlt wurde. In gewisser Weise gab es Ähnlichkeiten. Wenn auch nicht ihr echter, war das hier Veronikas gesellschaftlicher Tod. Inszeniert vom König persönlich mit dem Prinzen als hilflosem Statist.
Quälend langsam begann Veronika die langen Stoffbahnen ihrer silbergeränderten Palla aufzuwickeln, das Amtszeichen des Weißen Kollegiums. Allein, ohne fremde Hilfe, war das ein mühseliges Geschäft, aber sie meisterte es. Anders als die meisten im Saal, war Veronika die längste Zeit ihres Lebens ohne Diener ausgekommen. Sobald sie fertig war, trat eine andere Lehrerin des Weißen Kollegiums vor, um ihr die gefaltete Palla wegzunehmen. Sie sah ihr in die Augen, aber die Frau mied ihren Blick.
Damian ballte seine Hand zu Faust. Natürlich hatte die Akademie ihre Finger im Spiel. Wahrscheinlich waren sie dort insgeheim sogar froh, sie loszuwerden. Nicht umsonst hatten sie Veronika in den Palast abgeschoben. Seine Nägel bohrten sich in die Innenseite seiner Handflächen, bis es wehtat.
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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...