Mera
Thalias Worte geisterten noch immer in meinem Kopf herum, als ich das Haus am Waldrand erreichte. Vor mir ragten die grünen Riesen des Arbors auf. In ihrem Schatten schob sich das spitze rote Dach eines niedrigen Fachwerkhauses durch die Äste zweier Nussbäume.
Zuhause.
Wie von selbst wurden meine Beine schneller. Ich erreichte den Brunnen und den schiefen Holzzaun, der unseren Gemüsegarten umschloss. Mit einem vertrauten Quitschen schwang das Tor zur Seite. Der Geruch sonnengewärmter Kräuter empfing mich, durchmischt mit süßem Holunderduft von einem schwer mit Blüten behangenem Strauch neben dem Küchenfenster. Die ersten Kürbisblüten leuchteten orange in den Beeten und Hummeln summten von einer zur anderen. Ich stellte meinen Bogen mitsamt Köcher am Zaun ab und lief um das Haus herum zur kleinen Terrasse. Wie erhofft, saß dort ein Mann mit dem Rücken zur Fassade auf einer grob behauenen Holzbank. Er hatte wettergegerbte Haut, mittlerweile immer lichter werdendes Haar und trug grün wie ich. Vor ihm auf dem Tisch dampfte eine Tasse. Brennnesseltee, meiner Erfahrung nach.
„Papa."
Er wandte den Kopf zu mir. Bevor er etwas sagen konnte, hatte ich schon mein Gepäck fallen gelassen und rannte in seine Arme.
„Mera." Seine Stimme war ruhig wie immer. Er schlang die Arme um mich und ich atmete seinen Geruch ein. Warmes Leder, Erde, Harz und Tannennnadeln. Zuhause. „Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, auf deiner ersten Reise allein."
„Es tut mir leid." Sachte löste ich mich von ihm. „Hast du dir Sorgen gemacht? Ich wollte nicht-"
Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Ich habe keine Sekunde geglaubt, dass du nicht zurückkommst. Der Wald hätte mich spüren lassen, wenn dir etwas zugestoßen wäre. Komm. Setz dich. Trink einen Tee."
Ich ließ mich neben ihm auf der Bank nieder. „Du weißt alles?"
„Deine Tante hat mir aus Sarsónne geschrieben." Er goss seine Tasse wieder auf und reichte sie mir. „Und deine Kundschaft habe ich auch schon kennengelernt. Thalia, oder? Sie hat mir so einiges erzählt. Aber sicher nicht alles." Der letzte Satz klang wie eine Aufforderung.
Zögerlich nahm ich die Tasse entgegen, wog sie in der Hand. Und dann erzählte ich es ihm. Von meiner Reise nach Thisbe. Von der Suche nach der Spina. Vom Arbor und Kore, auch wenn ich ihren Namen und die Tatsache, dass sie ihre Magie wiederhatte, vorsorglich verschwieg. Trotzdem tat es gut, zu reden. Am Ende schaute ich unsicher zu meinem Vater auf. „Bist du sauer?"
„Warum?" Er sah mir in die Augen. „Weil du deine erste eigene Mission erfolgreich abgeschlossen hast? Wenn überhaupt, dann sollte ich stolz sein, oder?"
„Ich war mit einer Hexe unterwegs."
„Und? Habe ich dich zur Fanatikern erzogen?"
„Tante-"
„Deine Tante hat sich Sorgen um dich gemacht. Nicht ganz zu Unrecht, vermute ich. Du bist da in etwas reingeraten, das für Leute wie uns eigentlich eine Nummer zu groß ist. Aber du hast es gemeistert, bis hier her. Jetzt musst du es auch zu Ende bringen. Ich helfen dir. Wenn ihr morgen aufbrecht und die Blüte sucht, komme ich mit. Es gibt in den Hügeln Ruinen eines alten Tempels für Ananke. Vielleicht ist das der Ort."
Ich schüttelte den Kopf. „Du bist echt der einzige Vater, der so ruhig reagiert, wenn seine Tochter wochenlang mit einer Hexe durch den Arbor gezogen ist."
Er lächelte nur. „Über was soll ich mich beschweren? Dass meine Tochter in meine Fußstapfen tritt? Wenn es so wäre, dann hätte ich meinen Beruf nach deiner Geburt aufgeben müssen. Ich bin selbst schuld. Und du siehst nicht so aus, als hätten dir die letzten Wochen geschadet. Im Gegenteil. So glücklich habe ich dich lange nicht mehr reden gehört. Ich glaube, die Gesellschaft von ein paar Freundinnen hat dir gut getan." Mein Vater zögerte, legte seine warme Hand auf meine. „Mera. Du bist alt genug und ich will ehrlich zu dir sein. Dass ich nach Mamas Tod nicht mehr geheiratet habe...da habe ich mir lange Vorwürfe gemacht. Ich wusste, dir fehlt eine Mutter. Ein weibliches Vorbild. Aber ich konnte es einfach nicht, weißt du. Es ging nicht."

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Die Dornen der Götter
Fantasy„Hexen müssen sterben. So ist es Gesetz in Verlon. Seit dem Tag, als sich ihre Magie gegen uns wandte und Monster schickte. Seit dem Tag, als unser König die Kreaturen bezwang und in den Wald verbannte. Die Monster waren Gottes Strafe für Zauberei...